Premiere: 23.11. 2019
„Wahrlich hat Francesco Cavalli nicht seinesgleichen in Italien“. Dies war auch die Meinung Zuanne Zittios, die er in seinem Buch Le cose notabili, et maravigliose della città di Venezia im Jahre 1662 notierte, um sie der Nachwelt zur Prüfung zu überlassen. Zwar fügte er noch an, dass Cavalli „weder in seinem ausgezeichneten Gesang noch in seinem edlen Orgelspiel“ übertroffen werden könne, aber der Satz hat seine Gültigkeit bewahrt, sofern er nicht nur die vergänglichen Talente, sondern auch die unvergänglichen Werke des italienischen Meisters betraf. Tatsächlich hat sich von keinem der großen Opernkomponisten des frühen 17. Jahrhunderts soviel erhalten wie von Cavalli. Ein Glücksfall, denn von Monteverdi, dem man im Wettbewerb um den „bedeutendsten“ Opernkomponisten der Epoche die Krone reichen würde, sind zwar viele Opern bezeugt, doch nur drei vollständig überliefert. Anders sieht es im Falle Cavallis aus: nicht weniger als 27 (oder 28) der rund 40 bezeugten Opern haben sich in Partituren erhalten, weil der Meister selbst für deren Überlieferung sorgte. Eine der wenigen Opern, die bereits in der Frühzeit der praktischen Beschäftigung mit der sogenannten „Alten Musik“ gespielt wurden, war La Calisto – es wurde Zeit, dass, nach der glanzvollen Aufführung von Monteverdis Ulisse am Ende der letzten Spielzeit, nun auch ein Werk des bedeutendsten Schülers des Meisters der frühen Oper in Nürnberg auf die Bühne kam.
Liebestod und Liebeswahn, Liebesleid und Liebesglück: dies ist das Thema der venezianischen Oper. In La Calisto wird es in diversen Varianten auf besonders infame Weise dargestellt: das jungfräuliche Mädchen aus dem Gefolge der Diana wird von Jupiter verführt, der sich in die Gestalt der Diana verwandelt, um auf diesem Weg die lesbische Calisto zu überwältigen. Die Getäuschte wird gemeinerweise von Juno in eine Bärin verwandelt und – das soll ein Trost sein – bekommt am Ende von Jupiter die Verheißung geschenkt, dass sie nach ihrem irdischen Tod als Sternbild, also buchstäblich als „Star“, in den Himmel aufsteigen wird. Paar Nr. 2: Der junge Endimion, der seinerseits in Diana verliebt ist, wird am Ende in den ewigen Schlaf versetzt, wo sich die Göttin ihres Geliebten, dem sie sich aufgrund ihres Keuschheitsgelübdes nur heimlich nahen darf, bedienen kann, nachdem er fast, aus Hass und Eifersucht, von den wilden Waldwesen Pan, Silvanus und dem kleinen Satyr getötet wurde, die ihrerseits mit ihren Trieben kämpfen. Schließlich haben wir es mit Linfea, einem weiteren Mädchen aus dem Gefolge der Jagdgöttin, zu tun: sie, offensichtlich eine „alte Jungfer“, will endlich einen Mann, nachdem sie eingesehen hat, dass ein Leben in Keuschheit nicht ihr Ding ist, bekommt ihn aber nicht.
Wie man sieht: wir befinden uns mitten in einer Tragikomödie, zugleich, so der Regisseur Jens-Daniel Herzog, in einer „fiesen Geschichte“, in der die Macht (des höchsten Gottes) über den Idealismus (des naiven Mädchens) und die normative Kraft des Faktischen (Endimions ewiger Schlaf) über das siegt, was wir als „normale“ Liebesbeziehung definieren würden. Die Nürnberger Inszenierung unterschlägt nun nicht die traurigen Aspekte dieses „Dramma per musica“, das zurecht immer wieder gespielt wird. Sie bindet sie jedoch in eine insgesamt komische Dramaturgie ein, in der sich etwa der Gott – kongenial verkörpert von Jochen Kupfer – in Dianas Kostüm wirft, um sich unter der Dusche quasi nackig zu machen und die junge Frau in falscher Gestalt zu vögeln. Wir schauen also auf eine Burleske, die, man muss das bewundernd anerkennen, so gut wie nie dem Text widerspricht. Die Übertragung in die Gegenwart ist einfach, aber stimmig – einfach deshalb, weil die Idee zunächst einmal simpel ist, dass es sich bei der trockenen Öde, die der Krieg auf der Welt hinterlassen hat, und die der oberste Gott beseitigen soll (stattdessen verfolgt er lieber junge Nymphen), um die Folgen des Klimawandels handelt. Falsch ist sie schon deshalb nicht, weil eben jener „höchste aller Götter“ sich gerade nicht für die Ökologie, sondern für sein Sexleben interessiert. Insofern haben wir es bei dieser „Calisto“ mit einer Fortsetzung jenes politisch-satirischen Kabaretts zu tun, das schon im Venedig des mittleren 17. Jahrhunderts so populär war; an den Zuständen, die Obrigkeit betreffend, scheint sich nicht viel geändert zu haben. Und wenn die junge Calisto als Musterschülerin eines von Mathis Neidhardt entworfenen Mädcheninternats in die Handlung eingeführt wird, die die Leiterin eben dieses Instituts mehr als gewöhnlich verehrt und neben ihre physikalischen und mathematischen Formeln zur Erläuterung der Klimakatastrophe die Anweisung „Si deve agire! Subito!!“ schreibt, gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, dass diese Sympathisantin der Greta Thunberg von den politischen Gewalten nur enttäuscht werden kann. Wichtiger aber ist das, was und wie Julia Grüther singt: denn phänomenal ergreifend und stimmschön sind nicht nur ihre beiden Lamenti über den schrecklichen Betrug, den sie erleiden musste. Wie anders agieren da die anderen jungen Frauen in Dianas Schule: doch eher als Fightergirls.
Der Rest ist eine raue Komik, auch die der wilden Kerle auf ihren heißen Maschinen, die nichts daran finden, einen Nebenbuhler mit Elektroschocks zu foltern, der Rest ist aber auch: weitere Ergriffenheit. Wenn der Endimione des David DQ Lee unter einem falschen Mond, der von den acht weißgewandeten Schülerinnen des Internats über den Orchestergraben, bis in die erste Parkettreihe also gehalten wird, seine tiefen Gefühle für Diana lyrisch ausströmen lässt, dürfen wir einem hervorragenden Altus bei der Arbeit zuhören. Weniger lyrisch als deutlich sind die Übertitel, die notwendigerweise den umfangreichen Text von Cavallis Dauerlibrettisten Giovanni Faustini verkürzen, freilich auch vergröbern. Wenn der „größte Gott“, der moralisch bekanntlich klein ist, als „Sau-Bär“ tituliert wird, mag man den Wortwitz noch in Bezug auf das in einen Bären verwandelte Opfer seiner Triebe goutieren. Anderes ist wesentlich derber, als es eine Übersetzung im Geist des Originals legitimieren würde, das sprachlich deutlich genug war, doch egal. Die Dramaturgie dieser Aufführung bleibt, es ist die Hauptsache, nah dran an den Informationen von Text und Musik: bis zum hier buchstäblich interpretierten „Brechen“ der Calisto durch Junos böse Furien und Jupiters ebenso bösem Versprechen auf ewigen Ruhm in den Weiten des Sternenhimmels – als Preis für eine furchtbare irdische Not. Am Ende landet Calisto in einem Rollstuhl, dort, wo sie einmal ihre Formeln und Parolen an die Tafel schrieb, sitzt sie nun im mächtig glitzernden Sternenhimmel, bevor sie plötzlich aufsteht, um im Nichts eines leeren weißen Raums nur noch ihre wenn auch stehende Silhouette zu zeigen. Und Cavallis Musik entbindet noch einmal all ihren Glanz über all dem Elend der Bezwingung einer einst idealistischen Seele, die mit ihrem Schicksal zufrieden, ja glücklich zu sein scheint: „Le stelle / più belle / svallinino, / e brillino.“ Wie gesagt: eine fiese Geschichte.
Die Musik, das Orchester: wieder steht Wolfgang Katschner am Pult, der die in den Quellendokumenten aufgelistete, ursprüngliche Kleinbesetzung der Uraufführungsfassung im Teatro Sant‘ Apollinare um zehn Musiker erweitert, somit auf 16 aufgestockt hat, sodass neben der Generalbassgruppe (Spinett, Cembalo, Theorbe) und den Obligatoinstrumenten der Violone und der beiden Violinen drei Posaunen für die Götterszenen, weitere Bläser, eine Barockharfe, Schlagzeug, eine Orgel und ein Regal, auch Chitarrone und Barockgitarre hinzutreten. Das ergibt einen satten, an wenigen Stellen sogar modernistischen Sound, der doch, so schön er sich auch ins Ohr schmeichelt, in dieser Deluxebesetzung nicht nötig wäre. Der Beweis: als Wolfgang Gayler vor über 20 Jahren im selben Haus die Poppea dirigierte, genügten akustisch gerade einmal sechs Musiker, um ohne jegliche Verstärkung einen dynamisch und farblich ausreichenden Sound zu kreieren, der bis in die oberen Ränge drang. Der Hinweis auf die Größe des Hauses, die eine erweiterte Orchesterbesetzung nötig machen würde, ist schon angesichts der bekannten, extrem offenen Akustik des Hauses irrig – das Vergnügen aber am Orchesterklang, auch an den von Katschner in die „Calisto“ integrierten 13 Zusatzstücke wird dadurch nicht berührt. Auch nicht durch die Tatsache, dass man etwa 45 Minuten Cavalli aus dem Stück herausschnitt; es verträgt die Kürzungen, auch die Umstellungen im letzten Akt, in dem das Liebesduett von Diana und Endimion die Aufnahmevorbereitungen Calistos in den Himmel zweiteilt. Diana ist Almerija Delic, die neben dem lyrischen Opfer Calisto die Kraft der dominanten Lehrerin, die doch auch ein Opfer ihrer Gefühle ist, sehr vital ausspielt und -singt. Dritte/r im Bund: Martin Platz als Linfea, das Prachtbild einer komischen Jungfer bietend, koloratur- und höhensicher wie Jochen Kupfer, der als Bassbariton plötzlich viele Noten nach oben klettern muss (und dabei immer noch schön singt). Das homogene Ensemble ergänzen John Carpenter als Mercurio, Irina Maltseva als Satirino, John Pumphrey als Pane, Wonyong Kang als Silvano und die als indisponiert angekündigte Emily Bradley, die ihre Giunone als Göttergattin glänzend sang.
Bleiben die nicht zu unterschlagenden acht Nymphen, die in den diversen Kostümen Bella figura machen und den verstocktesten Gegner der Musik der Spätrenaissance bzw. des Frühbarock davon überzeugen müssten, dass sich mit der sog. Alten Musik durchaus jugendliche Effekte erzielen lassen. Das Publikum, das sich besonders im zweiten Teil – angesichts der komischen Verwicklungen, denen die von Martin Platz glänzend chargierte Linfea ausgesetzt ist – amüsiert zeigte, war mit der für die Nürnberger Rezeptionsverhältnisse völlig ausreichenden Aktualisierung der vor 370 Jahren entworfenen Handlung hörbar zufrieden, denn Oper wird immer noch in erster Linie für das regionale, nicht aus Spezialisten bestehende Publikum, also nicht für Reisekritiker gemacht. In diesem Sinne erlebten die Nürnberger einen so amüsanten wie politisch gewissermassen korrekten, dabei durchaus nicht dummen Abend. Herzlicher Beifall also für alle – und dies auch, weil hier (bitte nicht vergessen) wohl zum ersten Mal in der Nürnberger Theatergeschichte, ein Werk des großartigen Venezianers auf die Bühne kam.
Frank Piontek, 25.11. 2019
Fotos: ©Ludwig Olah