Premiere: 26.10. 2019
„Build the wall“ – wir können den Spruch nicht nur als Projektion auf dem Vorhang sehen, der sich gleich heben wird. Wir lesen die Sentenz auch auf dem T-Shirt von Action, der nach der Tötung Riffs zum „Chef“ der Jets ernannt wird. „Build the wall“, der Satz wurde bekannt durch einen miserablen Präsidentendarsteller, der schließlich höchstselbst auf dem Vorhang zu sehen sein wird, und der mit dafür verantwortlich ist, dass Rassenhass, Intoleranz und Gewalt quasi salonfähig wurden. „Send them back“, das ist auch so ein Spruch, der dem Gedicht der Emma Lazarus Hohn spricht, das auf dem Sockel der Freiheitsstatue gelesen werden kann – auch diese Sätze stehen auf dem Vorhang, in denen es nicht, wieder Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika erst kürzlich sagte, um „Shithole Countries“, sondern um „heimatlose“ und um vom „Sturm getriebene“ Exilanten geht,. Dahinter wabert es im grauen Rauch, die Jets und die Sharks fangen schon mal an zu kämpfen, schließlich haben sie nie etwas Anderes gelernt, als mit Gewalt auf die Anderen einzuschlagen. Und Leonard Bernsteins geniale Musik gibt immer noch den Soundtrack ab zur Romeo-und-Julia-Variation.
In Nürnberg klingt er besonders heftig in den Saal. Das unkaputtbare Meisterwerk von Bernstein und seinen Kollegen (16 Musikstücke – und alle brillant) wird unter der Regie und Choreographie von Melissa King und einigen Herren des Ensembles noch einmal aufgerauht, indem es sprachlich und körperlich in die Gegenwart transportiert wird. Der harte Sound und die verrohte Sprache (deutsche Fassung von Frank Thannhäuser und Nico Rabenald), die extreme Vitalität der Kampf- und sonstigen Begegnungsszenen passen zur Situation, die in 70 Jahren nicht besser wurde; wenn fast am Ende eine endlose Liste von Amerikanern und solchen, die in den USA ihr Glück finden wollten und die durch Polizeigewalt ums Leben kamen, projiziert wird, kapieren wir, dass die „West Side Story“ nicht nur ihrer Musik wegen alterslos scheint. Das Publikum versteht es, glaube ich, weil es immer wieder nicht nur der großartigen musikalischen und choreographischen Interpretation zujubelt, sondern vielleicht auch den zeitgenössischen Kontext mitdenkt.
Im Übrigen besitzen die Kampfszenen eine eigene Ästhetik, die tatsächlich, aber es ist nur scheinbar paradox, sondern eine hohe Kunst, nichts anderes als schön ist, weil nicht nur die „Herren des Ensembles“, sondern auch die dazugehörigen Damen mit größter Vollkommenheit agieren. Hart ist hier nicht nur das grundlegende Intro des Kampfes zwischen den neuen Montagues und Capulets, sondern auch die – wahrlich coole – Nummer namens „Cool“. Und fantastisch hinreissend ist nicht allein der festliche Doppeltanz der Jets und Sharks, in dem so etwas wie eine mögliche Harmonie aufscheint. Chapeau!
Zugegeben: es gab wohl kaum je eine schwache „West Side Story“-Aufführung, aber was am Premierenabend geleistet wird, ist mehr als normal, wofür die Namen der Interpreten David Boyd (als Riff), Nivaldo Allves (als Bernardo), Adrian Hochstrasser (als Action) und Annakathrin Naderer (als Anybodys, die sich aggressiv und verzweifelt in die Männergang hineinkämpft) stehen mögen – natürlich neben den Jet Girls und den „kleinen“ Jets und Sharks und ihren chicas, aber was heisst bei einem derartig körperlichen und szenischen Einsatz hier „klein“?. Knut Hetzer hat dem Ensemble ein paar einfache wie sinnfällige und leicht verschiebbare, mit Sprossen besetzte Eisenwände gebaut, zwischen denen der tödliche Bandenkrieg ausgetragen wird und die Solisten und Gruppen in schier aufregenden Lichtspielen nervös hin- und hertigern: auf der Suche nach einem Heimatort, denkbar differenziert in einem Raum inszeniert, den sie mit ihrer ganzen körperlichen Präsenz in höchst bewegten Tableaus (ich weiß: das ist ein Widerspruch) ausfüllen. Choreographie heisst hier nicht „nur“ Tanz. Choreographie ist hier ein so sinnfälliges wie ästhetisch schönes Arrangement von brillanten Bewegungsszenen, die mit der von Lutz de Veer dirigierten, meist harten und rhythmisch überaus prägnanten Musik durchwegs d’accord gehen. Voilà: ein Gesamtkunstwerk.
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Meist hart? Die Inszenierung hat mit der wunderbaren Andromahi Raptis und dem sensibel spielenden und intonierenden Hans Kittelmann zwei Mitglieder des Opernensembles gefunden, womit sie sich schon stimmlich vom Rest der verfeindeten Lager unterscheiden. Wunderbar die in jedem Sinne weiße Traumsequenz „Somewehre“: kein Hass, keine Schläge, kein Tod. Stimmungsvoll und (auch) beifallprovozierend ihre Duette, insbesondere das zweite, „One hand, one heart“, bevor die Polizeitruppe „aufräumt“ und Anita von den Jets vergewaltigt wird. Soviel Brutalität muss dem Publikum einfach zugemutet werden, zumal mit diesem grausamen Akt, der nicht von den Machern des Stücks erfunden wurde, eine völlig verständliche Motivation für Anitas fatale Lüge (Chino habe Maria getötet) gegeben wird. Was aber wäre eine gute, nein: eine sehr gute „West Side Story“ ohne eine Anita wie diese? Myrthes Monteiro ist, in allen ihren Talenten, den tänzerischen und den sängerischen wie den schauspielerischen, schlicht und einfach: überragend.
So wie diese ungewöhnlich heftige und brillante Aufführung mit einem erstklassigen Ensemble, das das Publikum schließlich, völlig zurecht, lange jubeln lässt – und dies nicht obwohl, sondern weil der Schluss, Marias unstillbare Trauer und ihr Schluchzen über dem Leichnam des Geliebten, eher in der Dunkelheit als in einem Hoffnungsschein der Versöhnung verklingt.
Frank Piontek, 27.10. 2019
Fotos: Bettina Stöß / Staatstheater Nürnberg.