Nürnberg: „The Rape of Lucretia“

„Abstand“, rief die Hofdame der Infantin in der Operette, die vorgestern Premiere hatte. Auf Abstand will auch Lucretia – das altrömische Exemplum für Tugend und Leiden einer Vergewaltigten – ihren Vergewaltiger halten, doch mißgelingt‘s bekanntlich. In der Nürnberger Premiere möchte auch der Regisseur Jens-Daniel Herzogs Benjamin Brittens und Ronald Duncans Rape of Lucretia auf Abstand halten: und dies nicht allein aus den bekannten infektionstechnischen Gründen. Auch an diesem Abend berührt man sich nicht, zumindest nicht körperlich; von seelischen Verwundungen und heftigen Kämpfen vielerlei Art sehen die Zuschauer genug, die diesmal nicht ganz so zahlreich kamen wie noch beim Pimpinone-Blaubart-Duett und bei Abrahams Märchen im Grand-Hotel. Es mag am Stück selbst liegen, das 1. dem Nürnberger Publikum eher unbekannt sein dürfte (ein Hinderungsgrund für altgierige Theaterbesucher) und 2. das Werk Probleme aufweist, die vermutlich selbst für strenggläubige Christen kaum lösbar sind. Duncan und nicht zuletzt der Komponist hatten, was an sich nicht originell war, da christologische Deutungen der Lucretia-Geschichte seit dem 17. Jahrhundert begegnen, der Fabel eine Interpretation im Geist des Neuen Testaments angehängt. Lucretias Suizid galt ihnen als Vorwegnahme des Schicksals des Heilands, der wie sie sein Leben für eine zu erlösende Menschheit gab: 500 Jahre nach dem mythischen Tod der „Heidin“. Britten und sein Librettist hatten 1946 das Problem des politischen Ge- und Missbrauchs der zuerst von Titus Livius erzählten Geschichte zwar nicht ausgeklammert, aber im Vergleich zur religiösen Überdeutung banalisiert.

Das Problem war schon für die Zeitgenossen der Uraufführung in Glyndebourne offensichtlich: dass der propagierten Botschaft, die am Ende von den beiden Kommentatoren der Handlung, dem Male und dem Female Chorus, verkündet wird, vermutlich nicht einmal in Bezug auf die gerade erlebten Gräuel des 2. Weltkriegs eine konkrete Realität entspricht. Die Mystifizierung der Wunden, die in der Rape of Lucretia das „Heil“ verbürgen soll, bleibt eine Provokation. Die Nürnberger Inszenierung geht nun durchaus produktiv mit dem Problem um. Um das Stück zu retten, das – als echter Britten – ein großartiges Stück mit einem verstörend seltsamen Finale ist, entschloss sich Jens-Daniel Herzog mit der Dramaturgie zu einer Umdeutung; nur nebenbei sei erwähnt, dass rein christliche Deutungen dann funktionieren, wenn uns die Regie auf Lucretias Passionsweg gleichsam mitnimmt: so gesehen und geschehen in Fiona Shaws grandioser Glyndebourner Inszenierung von 2013 (interessanterweise hat selbst diese Regisseurin bekannt, dass der ideologisch verkleisterte Schluss des bösen Stücks kaum einen heilenden Sinn habe). Bei Herzog aber packt Lucretia, der – man kann, aber man muss das nicht so deuten – ihren Schmerz nicht ernst nimmt, einfach ihre Koffer und verlässt die Bühne, nachdem sie ihren Klavierauszug zu Boden geworfen hat. Der Trick besteht darin, dass diese Lucretia in zweierlei Sinn aus ihrer Rolle fällt: als Bühnenfigur und als Opernsängerin – sodass der intrigante Junius, der den Tarquinius dazu anstachelte, Lucretias „Keuschheit“ zu prüfen, zum piano score greift, um sich in Brittens Partitur von Neuem zu orientieren.

Wir kennen das Bild schon vom letzten Bayreuther Tannhäuser: dass die Figur gleichsam aussteigt, weil Leben und Theater einfach nicht mehr vereinbar scheinen. Und schließlich verlassen alle Sänger, die im epischen Theater dieses Abends am Bühnenrand sitzen, wenn sie gerade nicht dran sind, verstört und wütend die Bühne. Was bleibt, ist die Heilsbotschaft der beiden Chor-Kommentatoren, aber auch hier sehen wir, dass es sehr viel Kraft kostet, die Zeilen über die Lippen zu bringen: der charismatische Fernsehprediger ballt energisch die Fäuste und schließt, scheinbar nach innen sehend, die Augen. Mehr Ratlosigkeit als Heilsgewissheit, wie der Dramaturg Georg Holzer schrieb. Wer aber glaubt, dass diese Deutung grundstürzend neu sei, irrt, denn schon André Obey, der die Vorlage für Duncans Libretto lieferte, lässt die Sprecherin von einer Flucht Lucretias träumen. „Eine feministische Version, in der Lucretia durch ihren gegen den Willen ihres Mannes vollzogenen Selbstmord ihren Körper und ihr Ich zurückfordert, muss erst noch geschrieben werden“ ( Germaine Greer). Voilà, hier ist sie.

Warum also spielt man dieses Stück, wenn man, gesetzt den Fall, man geht nicht aufs Ganze wie Fiona Shaw, gegen den Willen der Autoren agieren muss, um dem Stück auf einer höheren, realistischen Ebene gerecht zu werden? Weil es von einem der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts komponiert wurde, und weil es mit nur 13 Instrumentalisten und 8 Sängern eine ideale Corona-Oper ist, „aber das tut ja“, sagte Britten zur Miniaturbesetzung seines Kammerorchesters, „keinem weh“. Im Gegenteil: an den Forte-Stellen genügt es völlig, wie auch in den vielen Pianissimo-Passagen, in denen die Harfe und die Flöte brillieren darf. Unter Björn Huesteges Leitung präsentiert die Staatsphilharmonie Nürnberg die Partitur, von den Klavier-Rezitativen über die Tutti-Explosionen zur Passacaglia und den deliziösen kammermusikalischen Dissonanzen, denn auch ohrenöffnend für Brittens köstliche Extravaganzen und sein gebrochenes Pathos.

Zudem kann man auch dieses Stück – wie wohl jedes, wenn‘s was taugt – auf einer fast leeren Bühne spielen lassen, als wär‘s eine Inszenierung von Peter Brook. Ein paar Stühle und Notenständer, ein Lichtquadrat auf dem Boden, eine Videowand im Hintergrund, mehr braucht es nicht, um Brittens und Duncans Welttheater szenisch auszustatten. „Follow the Bible“, lesen wir zu Beginn, das Christenherz glüht und brennt (Lucretias Herz wurde ja auch geröstet), am Anfang wie am Ende, an dem das Opfer, das keines sein will, zur Heiligen erklärt wird: auch dies eine Sage, freilich aus dem neueren Rom. Das von Stefan Bischoff produzierte Video zeigt auch, zu Tarquinus‘ Teufelsritt durch den Tiber, ein eilendes Pferd im Bild-Negativ, dem die graphischen Verstörungen flimmernd eingezeichnet wurden. Erscheint Lucretia, schauen wir auf 12 Schmink-Münder; die Bilder erstarren im Moment des vollzogenen Schocks, der im Silhouettenbild der Vergewaltigung (zwei schwarz ausgeschnittene Körper vor der Lichtwand) szenische Realität wird. Herzog inszeniert das Werk als Parabel zwischen Bühnenrealität und entlarvtem Schein, was die Männergesellschaft, die für Lucretias Unglück verantwortlich ist, nicht bagatellisiert. Collatinus, der Mann der tief verwundeten Frau, ist nicht besser als Tarquinius, der sie schlug, und als Junius, der Intrigant im Hintergrund, der schließlich dafür sorgt, aus der Vergewaltigung durch den Etruskerherrscher politisches Kapital zu schlagen, indem er die Römer zum (bei Titus Livius schließlich erfolgreichen) Aufstand anzustacheln. Ohne den Vergewaltiger in Schutz zu nehmen, muss allerdings angemerkt werden, dass er nicht zu Lucretia geht, um sie zu Boden zu ringen. Sein Plan liegt lediglich darin, so steht‘s geschrieben, ihre „Keuschheit“ zu beweisen. Natürlich ist dies ein widersprüchliches Projekt, dem das Scheitern eingeschrieben ist, aber erst die „Wollust“ und die Fehlinterpretation ihrer „feuchten Lippen“ macht aus ihm den Berserker und nützlichen Idioten, den Junius braucht, um den Gegner zu erledigen. Sangmin Lee spielt ihn denn auch als brutalen Kerl, der nicht besser ist als seine meisten bierdosenknackenden Kumpel. Wonyong Kang ist ihm als Junius, auch vokal, und etwas lyrischer eingestellt, ein ebenbürtiger Gegner, während Nicolai Karnolsky als gehörnter Ehemann den Collatinus als politisch übervorsichtig, also plump agierenden Diplomaten gibt; sein allzu offensichtliches Abwiegeln angesichts von Lucretias Geständnis ist bewusst stupid – so wie die letzten zehn Minuten der Inszenierung eine Deutlichkeit besitzen, die möglich und verständlich, aber weniger subtil ist als Vieles, was wir vorher sahen.

Wenn aber die Frauen, Lucretia und ihre beiden Dienerinnen, mit den eigentlich auf Christi Opfertod verweisenden, aber vorher uneigentlich als Schwitztücher (man hält sich für die Kerle in Form) benutzten Tüchern den Schmutz beseitigen, den die Männer im ersten, fast symmetrisch gebauten Akt anrichteten, und wenn der Female Chorus dies kommentiert: „Die Zeit trägt die Männer, aber die Zeit schreitet voran auf den müden Füßen der Frauen“, ist des Glück des Zuschauers vollkommen. Es ist schon dann da, wenn es das Frauenterzett hört: Hanna Larissa Naujoks als Lucretia, die ihre besten, weil erregtesten Passagen nach der Vergewaltigung hat, Marta Świderska als ältere Amme Bianca und die goldtonstrahlende Julia Grüter als Lucretias junge Dienerin Lucia. Bleiben die beiden Primae inter pares: Emily Newton als Female Chorus und Tadeusz Szlenkier als Male Chorus, zwei Erzähler, die ihren Part mit Genauigkeit und Pathos erfüllen – bis zum bitteren Ende.

Riesenbeifall auch für diese Sänger und Darsteller und eine Produktion, die als Abschluss einer kleinen, großen Premieren-Trilogie das Publikum offensichtlich und zurecht begeisterte.

Frank Piontek, 14.6. 2021

Fotos: © Ludwig Olah