Premiere: 11.6. 2021
„Abstand!“ ruft die auf Etikette bedachte Hofdame Gräfin Inez de Ramirez, wenn sich der jugendliche Held und die Primadonna endlich umarmen wollen. Tatsächlich: Auch an diesem Abend bewegt man sich auf der Bühne des Nürnberger Opernhauses sichtlich auf Abstand – aber berührend ist die Produktion doch: durch ungewöhnlich viel Witz (hier hängt nichts durch), ein bisschen Sentiment, durch Perfektion der Technik und eine schier beglückende Operettenmechanik, nicht zuletzt durch eine Musik, die neben der der drei bekannten „Hauptwerke“ des Komponisten (der Blume von Hawai, dem Ball im Savoy und der Viktoria) absolut bestehen kann.
Das Märchen im Grand-Hotel ist, wenn es derart charmant gebracht wird, das, was man im Jargon der 30er vermutlich einen „Knaller“ genannt hat. Kein Wunder, dass es nach seiner Premiere im Theater an der Wien, die 1934 schon im ersten Exil vor sich ging, zunächst erfolgreich war. Dass es erst 2018 in Mainz seine szenische deutsche Erstaufführung erlebte, nachdem die Komische Oper Berlin im Vorjahr eine konzertante Erstaufführung ermöglicht hatte, muss verwundern, doch die Paul-Abraham-Renaissance hat inzwischen auch dafür gesorgt, nach Roxy und ihr Wunderteam dem Hotel- und Filmstück, einer musikalischen Screwball-Comedy ersten Ranges, zum verdienten Erfolg zu verhelfen. Wer nun einwenden mag, dass Texte wie „Jedes kleine Mädel will glücklich sein“ nicht besser ist als ein Kitschschlager, könnte sich vom Czárdásfürstin-Regisseur Peter Konwitschny sagen lassen, dass die Sehnsucht nach einem geglückten Leben nicht denunziert werden sollte.
Natürlich geht auch der Weg des verliebten Albert Chamoix, der auf Wunsch seines Vaters in dessen Hotel als Zimmerkellner dienern soll, um das Geschäft „von der Pike auf zu lernen“, und der Infantin Isabella, die von der stolzen Zicke zur empfindsamen Frau mutiert, im Fall des Librettos von Fritz Löhner-Beda (Das Land des Lächelns) und Alfred Grünwald (Gräfin Maritza) – natürlich geht auch dieser Weg über die üblichen Mechanismen der Gattung. Erstaunlich ist, dass sie noch nach 90 Jahren funktionieren. Sie funktionieren freilich „nur“ deshalb, weil der Regisseur Otto Pichler, der sein eigener Choreograph ist, auf Tempo, Timing, Körperkomik, Eleganz und stetige Bewegung setzt.
Der wunderbare Jörn-Felix Alt bewegt sich wie ein graziöser Pan durchs Grand-Hotel, wenn er Freude und Verzweiflung der Verliebtheit ins Tanzbein leitet. Andromahi Raptis ist ihm eine ebenbürtige Partnerin: in „melodramatischer“, also komischer Kunst-Ohnmacht, in entzückend abscheulicher Aristokrateneitelkeit, die das Ende schon ahnen lässt, beim wahren Gefühl jugendlicher Liebessehnsucht (ein Höhepunkt: ein Duett in Grün, zusammen mit Ulrich Allroggen, also dem alternden und lebens- wie liebeserfahrenen Monsieur Chamoix am Klavier). Wahres Gefühl? „Träum heute Nacht von der Liebe“ – im Glitter wird die Welt wahr, das ist die Operettenwahrheit. Doch wenn sie, die erst durchs Tal der Tränen gehen muss, bevor sie zu ihm, dem wahren Operettenmenschen kommt, sich zum „Republikaner“ bekennen vermag, vor dem reizvoll gebrochenen und durchaus nicht banalen Happy End buchstäblich am Boden liegt, beginnt‘s, als wären wir im dritten Tannhäuser-Akt, plötzlich zu schneien.
Schließlich heißt das Stück nicht „Liebe im Grand-Hotel“, sondern Märchen im Grand-Hotel. Was sonst nur falscher Schein ist, ist flimmernde Leinwand; das Stück spielt auch im Film-Milieu. Die zweite, nicht nachgestellte Dame, heißt Marylou, ist Tochter des Filmmoguls Sam Makintosh und darf reizvoll intrigierend (und an- bzw. ausgezogen) die Prinzessin dazu bringen, im Film mit einer „Real Life-Story“ ihren Part zu spielen, um die Traumproduktionsfirma zu sanieren. Das ist so zynisch wie selbstkritisch; Abraham und seine Librettisten haben schon gewusst, wie viel Traum und Lüge in der Industrie steckt, von der sie auch lebten. Makintoshs „Ich brauch etwas Pikantes / Und doch nicht zu Riskantes“, ein echter, mitreißender Abraham-Schlager, wird zum Rondo-Thema des Abends (Hans Kittelmann macht das einfach typengerecht: eine brillante Schablone).
Die Nürnberger Inszenierung löst die Darstellung des Film-Milieus in eine grandiose Show auf. Schon kurz nach dem Aufziehen des Vorhangs sehen wir die sechs Tänzer des Abends in einer King-Kong-Chorus-Line über die Bühne affeln: als Pendant zum Quartett der Stubenmädchen im äußerst kleinen Schwarzen, das den 2. Akt eröffnet, nachdem die Powerfrau Marylou, also Maria-Danaé Bansen, uns nach der langen Pause schon schnell auf Touren gebracht hat. Übrigens entsprang sie an diesem Abend nicht, wie Athene, dem Kopf ihres Papas, sondern dem des Übervaters King Kong: ein guter Witz unter vielen.
Schon optisch wird also viel geboten: vom symbolischen Rosenrot der Infantin („Zwei rote Rosen“ ist das lyrische Signum des Werks) über den Zebra-Ton der agilen Filmfrau zum weißen Smoking des beglückend arroganten Prinz Andreas Stephan, der vom grandiosen Entertainer Jens Janke gespielt / gesungen / gemimt / getazt wird; die Kostüme Falk Bauers sind als Teil des Gesamtkunstwerks eine Augenweide. Wir sehen, bei Jörn-Felix Alt, einen Federfächertanz im Schwarzlicht, einen improvisierten Mikrofontausch mit hereintänzelndem Glitzerdienstmann (Szenenapplaus), und wir blicken auf Fragonards berühmtes Schaukel-Bild, ein Abbild einstiger aristokratischer Herrlichkeit und jetziger erotischer Wunschvorstellung im Riesenrahmen (die Bühne wurde von Jan Freese entworfen).
Wir ergötzen uns an der witzigen Perlenketten-Ariette der Hofdame, die mit Almerija Delic glänzend besetzt ist, ebenso an Jens Krause, der den Hoteldirektor Matard spielt und, trotz Embonpoint, sehr lustig an den ölig-aufgeregten Typ erinnert, wie er gern von Hubert von Meyerinck gespielt wurde. Wir finden schon Marylous Auftrittsnummer „Jonny“ hinreißend, Raptis‘ / Isabellas „Ein Märchen von Liebe“ durchaus nicht schmalzig und lassen uns vom Orchester unter Lutz de Veer davon überzeugen, dass Paul Abrahams Operetten schon deshalb gut sind, weil er seine haltbaren Melodien und 20er-Jahre-Rhythmen durch eine brillante Instrumentation geadelt hat: mit zwei Klavieren, Harfe und Banjo, Tuba und Gitarre, Schlagzeug und Glockenspiel.
Also: Riesenbeifall für eine märchenhaft gelungene Produktion.
Frank Piontek, 12.6. 2021
Fotos: ©Pedro Malinowski