Nürnberg: „Xerxes“

Premiere: 24.11.2018. Besuchte Vorstellung: 16.12.2018

Eine Szene in Augsburg, am nächsten Tag, gegen Mittag: Zwei Jungs stehen an einer Ampel und warten auf Grün, das Skateboard des einen steht nicht auf den Rollen, sondern liegt quasi auf dem Rücken, der Junge tippt es mit seinem Fuß an, es kommt in die Vertikale, so dass es der junge Mann greifen kann.

Seltsam, oder auch nicht: Erst am Vorabend hat der Rezensent die gleiche Szene im Opernhaus Nürnberg gesehen. Da war es Nicolai Karnolsky, der ganz am Ende des Abends die selbe Geste ausgeführt hat, denn Händels „Xerxes“ spielt in der Inszenierung von Clarc-Delouel > le lab in einer Skaterhalle. Wer aber ist „Clarac-Deloeuil > le lab“? Sie sind, erfährt man, „eine Künstlergruppe um Jean-Philippe Clarac und Olivier Deloeil, die sich 2009 in Bordeaux gegründet hat. Le Lab erarbeitet interdisziplinäre Kunstereignisse von der großen Opern- und Theaterbühne bis zu leichteren performativen Aktionen.“ Eben dies trifft’s: „Leichtere performative Aktionen“. Sie setzen die komische Handlung des „Xerxes“, der weder Opera seria noch Opera buffa ist, in die Jugendwelt, in der sich die jungen Leute mit ihren Liebe- und Eifersüchteleien austoben können. Das hat Charme, zumal dann, wenn echte Nürnberger Skater vom Kornmarkt als Edelstatisten agieren und mit schönen Videoeinspielungen die Skater interviewt werden und sich ein Skateboard wie magisch aus dem Opernhaus begibt, um nach einer Rundfahrt am Ende tatsächlich auf die reale Nürnberger Opernbühne zurückzukehren, wo es Nicolai Karnolsky, siehe oben, in Empfang nehmen kann.

Dummerweise aber kommen dem Opernkritiker einige Bilder und Erinnerungen in die Quere. Stefan Herheim hat 2011 das Werk an der Komischen Oper glanzvoll, ungeheuer komisch und hintersinnig inszeniert: als Barockrevue. Mit dieser Opulenz kann die Nürnberger Inszenierung nicht mithalten; soll sie auch nicht – doch hat mancher Besucher den Eindruck, dass der, das ist angesichts der Szene kaum ein Schade, um ein Drittel gekürzten Partitur ein wenig mehr an optischer Abwechslung gut täte. Nach einer Stunde hat sich der Reiz des Bühnenbildes erschöpft; die Wandlungen, die die Figuren, die ja nicht psychologisch konturiert sind, erfahren, spiegeln sich eben nicht in der Szene – auch wenn im Schluss einige Helden und Heldinnen dieser amourösen Abenteuer, die sich um einen „Anführer“ drehen, in so etwas wie Erwachsenenkostümen auftreten.

Insofern: Ja, man kann die Geschichte um den Kerl und seine Entourage im heutigen Nürnberg ansiedeln, aber man müsste es denn doch mit noch mehr Esprit und barockem Ungestüm tun, so wie es, beispielsweise, eine Atalanta mit ihrem deutlichen Outfit und Avencement ins Erotische umsetzt. Völlig unbenommen von der szenischen Einöde, die spätestens in der 3. Stunde – allerdings sympathisch unterbrochen von den Filmeinspielungen – den Zuschauer zu ermüden droht, woran auch die drei Skaterjungs nichts ändern können, sind die musikalischen Leistungen des Ensembles. Die Premiere hat Wolfgang Katschner geleitet, der uns in der letzten Spielzeit eine auch musikalisch überwältigende „Rückkehr des Odysseus“ schenkte. Er hat wieder mit der Staatsphilharmonie Nürnberg zusammengearbeitet; diesmal klingt der Händel, immerhin 140 Jahre jünger als der Monteverdi, wie eine Mischung aus Alt und Neu, die nicht immer befriedigt, weil sie eher unentschieden zwischen dem „Alte-Musik“-Sound der 60er Jahre und der heutigen Aufführungspraxis vermittelt. Theorbe, Barockgitarre und Cembalo ergänzen das Ensemble, das diesmal von Björn Huestege geleitet – und ausgiebig gefeiert wird. Das Sängerensemble wird angeführt vom Xerxes der Almerija Delic, die sich bereits mit ihren ersten Partien in die vorderste Rehe des Nürnberger Ensembles gesungen hat. Ausgesprochene „Barocksänger“ finden sich zwar nicht in dieser Gruppe, aber mit der Romilda der Julia Grüter, deren glockenreine, ausdrucksfähige Goldstimme wieder entzückt, findet der Hörer einen weiteren Pluspunkt dieser Interpretation.

Als sexuell attraktive, weil attraktiv sein wollende „Intrigantin“ hat Andromahi Raptis (als Atalanta) einige prägende Auftritte; dazu passen die Interviewschnipsel, in denen sich die sympathischen Skater vom Kornmarkt über die Rolle der (wenigen) „Skatergirls“ auf dem Platz und im Freundschaftsgefüge der Gruppe und der einzelnen Sportler äußern. So viele Skatergirls wie auf der Xerxes-Bühne scheint es, proportional gesehen, in der Nürnberger Wirklichkeit nicht zu geben. Dafür tritt eine weitere Figur ins Spiel, die sich nur deshalb als Skaterboy verkleidet, um den erotisch lässigen „Anführer“, also Xerxes, wieder zu erobern. Katrin Heles singt diese Amastre mit der Würde der im Beziehungskrieg übel Ausgeboteten. Den Part des (vokal hervorragenden!) Falsettisten hat diesmal Zvi-Emanuel-Marial übernommen, der in einem – na, sagen wir mal – eher ungünstigen Jungskostüm herumlaufen muss. Was dem Wagnertenor der Matrosenanzug, ist dem Händelsänger die kurze bunte Hose. Bleibt der Komiker, also Wonyong Kang als Elviro, der den Verpeilten liebenswürdig spielt und ansprechend singt: nicht nur die berühmte Blumenstelle.

Und das berühmte „Ombra mai fù“? Was hatte das nun zu bedeuten? Ganz einfach: Der Baum, den der King dieses Miniimperiums da anbetet und -minnt, ist nichts weiter als – genau: das „Holz“. Zugegeben, so hat das der Librettist nicht gemeint, auch lässt er Xerxes ausdrücklich von einer Platane, dann von etwas „Vegetabilem“ singen, aber was soll’s. Wo ein Baum zu einem geliebten Skateboard wird und die Verwirrung der nicht ganz ernst zu nehmenden Gefühle eh schon – für einen Barockopernherrscher – unziemlich schräg ist, darf die Obertitelei sich Freiheiten erlauben, die im Sinne des „Konzepts“ funktionieren müssen. Falls man jedoch auf das Interesse einer jüngeren Schicht von Opernbesuchern gehofft hat, so müsste man, fürchtet der Opern- und der Händelfreund, schon etwas mehr auf die Bühne bringen als eine simpel ausgeleuchtete Skaterhalle. Vielleicht doch so etwas wie jenen Theaterzauber, den Stefan Herheim und sein Dreamteam damals entfachten. Denn sonst wird die schönste Händeloper zu einer letzten Endes nicht besonders interessanten Angelegenheit.

Frank Piontek, 18.12.2018

Fotos: © P. Malinowski