Natürlich schreien sie auch diesmal irgendwann. Aber wer möchte bezweifeln, dass der Ausdruck des Leidens angesichts der Verbrechen, die man ihnen antat, nicht angebracht wäre?
Sie: Das ist das „Volk“, und die, die über sie kommen, sind die „Forscher“. So werden sie jedenfalls im Programmheft genannt: sie, die kollektiven Protagonisten in Strawinskys Feuervogel. Denn das erste Ballett-Meisterwerk des Russen wird von Goyo Montero und seiner Compagnie – natürlich, möchte man wieder sagen – nicht vom Blatt gespielt. Der Choreograph, der mit diesem Hauptwerk des Balletts des 20. Jahrhunderts seine letzte Spielzeit am Staatstheater Nürnberg ganz bewusst beginnt, geht „nur“ von einigen Figuren und Konfrontationen des originalen Librettos aus, um die Geschichte in die Gegenwart zu holen. Er nimmt sich also die Freiheit der Interpretation, die im anderen bedeutenden Werk Igor Strawinskys per se enthalten ist.
Zuerst also die Scenes de Ballet von 1944, ein sog. abstraktes Ballett (als ob es das gäbe …), dann der märchenhaft-realistische Feuervogel in der Fassung Marco Goeckes: Geht das? Es geht ganz hervorragend, so dass man am Ende denken könnte, dass auch die umgekehrte Reihenfolge nicht allein möglich, sondern auch sinnvoll wäre. Dass sich damit die Gewichte verschieben würden, liegt auf der Hand, aber Strawinskys Genie und die Verschiedenartigkeit der musikalischen Sprachen der beiden starken (Ballett- und Musik-)Kompositionen würde auch den Titel Strawinsky: Montero / Goecke legitimieren. Denn beide (Ballett- und Musik-)Kompositionen erscheinen am umjubelten Premieren-Abend wie zwei Seiten einer Medaille: Zuerst der „mittlere“ Strawinsky mit seiner quasi ausgewogen heiteren Musiksprache, dann der junge Mann mit seinem impressionistisch angehauchten, wildromantischen Timbre. Zuerst die eigenwillige Hand- und Fuß-Choreographie eines Marco Goecke, dann die unverwechselbaren Gruppen- und Zweierbildungen eines Goyo Montero, in dem die Kollektive erst vorsichtig, dann zugewandter, dann zerstörerisch aufeinander treffen. Beginnt der Abend mit einer voluminösen Soundstrecke, in dem sich Kriegs- und Feuerwerks-Knallereien überlagern, bevor nach der Musik ein letztes Rauschen das einsame Individuum begleitet und ein Schuss das Publikum aufschrecken lässt, ohne dass da jemand im Dunkel fiele, versorgt uns Montero nach der Pause mit einer pessimistischen Sicht auf die Begegnung zwischen „zivilisiertem“ Menschen und Natur, zwischen dem „Forscher“ / seinem Anhang und den Indigenen. Hier die Wiederkehr des Zarewitsch, der gleichzeitig die verbrecherischen Züge des bösen Zauberers Kaschtschei angenommen hat, dort der Feuervogel, die Repräsentantin des Ursprünglichen, eine Frau, die am Ende in einem Akt des unbegreiflichen Furor alle, ausnahmslos alle – die Fremden wie die Eigenen –, in den Tod zu jagen scheint.
Alisa Uzunova und Jay Ariës treten gegeneinander an, sie tanzen zusammen und scheinen sich in einer liebend-erotischen Begegnung zu verschlingen und doch regiert am Ende der Terror die asymmetrische Beziehung. Montero deutet die Beziehung zwischen dem Feuervogel und dem Zarewitsch, die beim Uraufführungschoreographen Michail Fokine noch als typisches Märchenmotiv gestaltet wurde, in dem das Tier als Helfer des Menschen auftritt, als unheilvollen clash of cultures, ohne doch die Momente der Annäherung zu unterschlagen. Annähernd deckungsgleich scheint mir die Ur-Geschichte mit der Neuinterpretation nur in einem abgeschlossenen Tanz: statt mit der Prinzessin zu tanzen, begibt sich der „Forscher“ in einen die Anziehung wie die Abstoßung betonenden pas de deux mit dem agilen Wesen, der prima inter pares einer Gesellschaft, die schließlich „zu einem Rachefeldzug gegen die Verursacher von Umweltkatastrophen, Erderwärmung, Ressourcenkriegen antritt“. Kaschtschei und der „Forscher“ sind dem Choreographen „die Repräsentation eines skrupellosen, egomanischen Machtmenschen, eines Soziopathen, der sich und seine Bedürfnisse über alles andere stellt“, so Montero, womit er die Rolle des Zarewitsch bewusst unterbewertet. Man könnte es für pure Schwarzweißmalerei halten, wenn’s nicht wahr wäre, auch wenn wir wissen, dass wir selbst, aus der Nummer kommen wir nur sehr schwer heraus, Teil eines Systems sind, das auf kolonialistischen Mechanismen basiert, die so kompliziert sind, dass die, die selbst den Regenwald abholzen, zu Opfern ihrer eigenen Umweltzerstörung werden. Das Ballet findet aus diesem Dilemma einen Ausweg, indem es, siehe oben, den beiden Hauptfiguren eine erste und zugleich letzte zärtliche Begegnung schenkt. Der Choreograph ist halt klüger als der Dramaturg seiner selbst.
Der Feuervogel, arbeitet, wie üblich bei Montero, mit allen Mitteln des von Salvador Mateu Andújar geschaffenen Kostüms (das einerseits Naturmaterialien reflektiert, und schwarze Kostüme und Gruselmasken bei denen, die, das ist ein Zitat, wie der böse Zauberer von 1910 in den silbernen Wald kommen), des von Leticia Gañán und Curt Allem Willmer entworfenen Bühnenraums und des von Samuel Thery und Montero erdachten Lichts, das vom intensiven Dunkel bis zu einem Scheinwerfer reicht, der den am Boden liegenden Feuervogel erfasst, bevor er sich zur Rache erhebt. Mit anderen Worten: Montero unterwirft seine Zivilisationskritik einem ästhetischen Prozess, in dem das Schreckliche am Ende wieder zum Schönen wird – der massive Beifall mag darauf hinweisen, dass die Erschütterung und das Vergnügen an der künstlerisch präsentierten Analyse extremer Fehlentwicklungen der Menschheit sich die Waage halten. In Goeckes Scenes de Ballet, einer für die Nürnberger Compagnie kreierten Uraufführung (während Der Feuervogel, in Nürnberg Firebird genannt, 2023 mit dem Ballets de Monte Carlo seine Premiere erlebte), stellen sich die Beziehungen zwischen den Menschen und der Natur, auch ihrer eigenen, wesentlich einfacher, zugleich fast schwieriger dar. Goecke spricht von den Rätseln seiner Arbeit, den schwer oder kaum deutbaren Gesten und Bewegungen, mit denen er seine Figuren ausstattet, um die Hoffnung zu provozieren, „zusammenzukommen, gemeinsam zu sein“ – weil wir ja alle gelegentlich seltsame Dinge tun, die andere nicht verstehen, und die wir selbst an uns gelegentlich unverständlich finden. In den Scenes de Ballet, die aufgrund ihrer, so hat das der Komponist selbst intendiert, aller Handlung abholden Struktur alles Mögliche möglich machen, schauen wir auf einen dunklen, von Michaela Springer entworfenen Bühnenraum, der auf unheimliche Weise abstrakt wirkt. Im Mittelpunkt: Einer, zwei, drei, mehrere, alle, die gelegentlich in das von Goecke kultivierte Gliederzucken hineinfallen. Was gleich blieb, sind die radikal schnittigen, ultraschnell-zackigen Bewegungen, die Super-Abstraktionen einstiger „normaler“ Gesten. Doch was wieder einmal auf den ersten Blick wie Goeckes eigentümliche l’art pour l’art aussieht, entpuppt sich zusammen mit Strawinskys Musik als Coup. Es ist schlicht hinreißend, den 25 Tänzerinnen und Tänzern des Ensembles bei ihrer Arbeit zuzuschauen, die Goeckes ganz persönliche Hand- und Fuß-Arbeit verinnerlicht hat.
So gut sind eben die Mitglieder der Compagnie des Nürnberger Staatstheaters, dass sie auch etwas so extrem Anderes wie Goeckes Choreographien völlig überzeugend machen können, bevor sie sich in Monteros Strudel, Wirbel und elegante wie gewalttätige Bewegungen hineinbegeben.
Die Musik spielt am Abend schon deshalb eine der Hauptrollen gegenüber der Dominanz der Szene, weil die Nürnberger Staatsphilharmonie unter ihrem GMD Roland Boer die beiden Seiten der Strawinsky-Medaille nach dem initialen Andante in doppeltem Forte Glut voll, rhythmisch diszipliniert, farbbewusst und solistisch hervorragend ausspielt. Wie gesagt: Die Scenes de Ballet könnten auch nach der Pause gespielt werden. Das macht auch die Qualität der klanglichen Interpretation, die selbst die relativ Leich gewichtigen, mit sublimierten Broadway-Anspielungen arbeitenden Ballettszenen von 1944 zu einem Hauptwerk des Komponisten macht; die Einordnung eines Opus als sog. Haupt- oder Nebenwerk ist ja eh akademischer Natur. Kriegsstücke sind sie, an diesem Abend, ja Beide: der mit einer einschichtigen, doch theatralisch ungemein wirkungsvollen Geschichte erzählte Feuervogel und die Revue, die kurz vor dem Ende des Kriegs, als die Amerikaner noch die Nazis bekämpften, für gute Laune sorgen sollte. Seine erste eigentliche Choreographie erfuhren die Scenes de Ballet erst nach dem Krieg: durch Frederik Ashton, einem der großen Grandseigneurs der modernen Ballettkunst des mittleren 20. Jahrhunderts. In Nürnberg trat mit Goecke ein Mann das Ashtonsche Erbe an, den man kaum mit irgendeinem Klassizismus in Verbindung bringen würde, während Der Feuervogel der Feuerprobe einer Sicht ausgesetzt wurde, in der die 13 Prinzessinnen keinen Platz mehr haben. Es geht auch anders, doch so geht es auch, wie es in einem berühmten Singspiel des 20. Jahrhunderts heißt.
Aber dies ist schon ein anderes Stück – demnächst in diesem Theater.
Frank Piontek, 16. Dezember 2024
Scenes de Ballet / Firebird
Igor Strawinsky
Staatstheater Nürnberg
Premiere: 14. Dezember 2024
Choreographien: Marco Goecke, Goyo Montero
Dirigent: Roland Boer
Nürnberger Staatsphilharmonie