„Der Frosch, der g’hört eigntlich nei“, sagt der ältere Herr neben mir. Eigentlich schon. Und uneigentlich? Was aber, wenn der Dritte-Akt-Komiker einfach nicht da ist?
Der Frosch kann ja auf verschiedene Weise dargestellt werden – inzwischen auch als Frau. An der Wiener Volksoper tritt eine Fröschin auf, nachdem Hans Neuenfels 2001 mit Elisabeth Trissenaar seine Ehefrau in die Salzburger Felsenreitschule geschickt hat. Man kann den Frosch herzhaft (wie Otto Schenk), grotesk (wie Helmut Lohner) oder böse (wie in der bald von der Intendanz revidierten Münchner Inszenierung Leander Haussmanns zu erleben) bringen. Zugegeben: streng dramaturgisch betrachtet, trägt er nichts Wesentliches zur Handlung bei, ja: Wird sein Part traditionell dazu genutzt, tagesaktuelles Kabarett und jene nach wie vor grandiosen Witze abzuliefern, die dem Text von Haffner und Genée im Lauf seiner Aufführungsgeschichte zugewachsen sind, stockt für den, der es gern theatralisch zielgerichtet mag, durchaus die Handlung. Aber darf man ihn deshalb einfach streichen? Im Theater darf man alles, nur nicht langweilen. Fragt sich also, ob die gänzlich froschlose Nürnberger Neuinszenierung der Fledermaus eher langweilig oder aufregend ist. „Langeweile“: das liegt ja ebenso in den Augen des Betrachters wie die Schönheit; es soll Leute geben, die Fledermäuse eklig, andere wieder, sie sie putzig finden. Glücklich ist, wer vergisst, dass es wie immer auf den sog. Standpunkt ankommt. Was also hat uns die neue Fledermaus zu bieten?
Im 1. Akt: ein großes Büro mit Lift. Im 2. Akt: ein Luxusschiff. Im 3. Akt: eine Kombination aus Beidem. Wer das Theater mit der Wirklichkeit verwechselt und sich ins Wohnzimmer der Eisensteins hineinwünscht, dürfte mit der Bühne, die Márton Ágh dem Regisseur Marco Štorman und dem Publikum vor die Nase gesetzt hat, seine Schwierigkeiten haben. Wer hingegen die grundlegende These, dass der zweite Akt einen außergewöhnlichen Ausbruch aus Eisensteins Alltäglichkeit darstellt, akzeptiert, könnte den Übergang zwischen dem Orlofsky-Bild und der Szene, die einstmals ein Gefängnis war, klarkommen – denn diese Passage ist der reinste Surrealismus.
Während wir auf die Tische und Stühle schauen, die wir aus dem 1. Akt kennen, erblicken wir noch ein paar Minuten lang das wogende Meer, das Orlofskys Party begleitet hat. Es wird irgendwann wie die allmählich aus dem Schlaf erwachenden und abgehenden Choristen verschwinden; nur die Schiffsschlote und das Deck werden ansichtig bleiben. Hier aber wackelt die Inszenierung denn doch, denn wäre es nicht konsequent gewesen, das katermäßige Aufwachen und das allmähliche Abklingen des Rauschs mit einem Rückbau der Bühne zu zeigen? Oder sind Graum und Wirklichkeit nur die zwei Seiten einer Wiener Medaille, deren Münzwert sich nach dem Erfinder der Psychoanalyse richtet? Abgesehen davon, dass die Idee der Verhaftung Eisensteins durch einen „Sicherheitschef“ der Firma (vulgo: dem Gefängnisdirektor Frank) an diesem Abend und in diesem Ambiente schlicht und einfach abstrus ist? Dagegen spricht immerhin die Verbindung, die, das ist schon im Libretto so, zwischen dem 2. und 3. Akt von Orlofskys Partygesellschaft gestiftet wird. Wo aber der Champagner, den man im 2. Akt nicht trinkt, alles verschuldet haben soll (in Wahrheit war es eine einzige Intrige) und die große Versöhnung zwischen Eisenstein und seiner Frau stattfindet, wollen wir nicht beckmessern. Die Bühne zeigt schließlich auch nur den Abklatsch einer Wirklichkeit, in der mehr Lüge und Verstellung als Wahrheit herrscht: bis auf die magischen Momente, in denen eine zärtliche Brüderlichkeit beschworen wird, wie sie nur ganz selten auf den Opern- und Operettenbühnen begegnet. Die Regie nimmt diesen Zaubermoment ernst, man verharrt in tiefem Ernst, und Rosalinde lässt sich willig und zärtlich vom notorischen Lügner und Ehebrecher Gabriel küssen. Eine alte Kitschkuh findet das einfach schön (der Autor bekennt, dass er zu dieser Spezies gehört). Und da diese Szene vielleicht (vielleicht!) wichtiger ist als ein auf- oder abtretender Frosch (horribile dictu!), sagt die Kuh in diesem Fall: Gar ned so schlecht.
Die Eingriffe in die Musik aber bleiben begrenzt. Nach dem Entreact zwischen dem 2. und 3. Akt folgt die Schnellpolka „Unter Donner und Blitz“, die gewöhnlich als Einlage vor dem Finale des 2. Finales gebracht wird. Die Musik der Pantomime wird mit Text unterlegt, Adeles „Mein Herr Marquis“ wird auf zwei Sängerinnen verteilt, sodass nun auch Ida im dritten Akt noch einen schönen Part bekommt. Und gesungen wird durchgehend gut, wenn auch die Adele der Chloë Morgan im ersten Akt noch dynamisch unterbelichtet wirkt. Im zweiten und dritten Akt darf sie dann auftrumpfen, schließlich auch den „Herrn Marquis“ zunächst betörend grässlich falsch singen. Komödie! Die Königin des Abends heißt freilich Rosalinde alias Emily Newton, die mit Taucherbrille und im Blaumann, den sie ihrem Lover, dem Cola-Man, abgeluchst hat (noch so ein Regieeinfall…) sowie mit einem Kasten Coca-Cola der Orlofsky-Gesellschaft als Wiener Weltwunder entgegentritt. Nun ja … Von der Werbung kommen auch der Cola-Man alias Alfred und das Großraumbüro her: https://www.youtube.com/watch?v=qtFfgHKhGP0 Wie es bei Brecht so schön heißt: „Es geht auch anders, doch so geht es auch.“ Newton und Martin Platz sind zumindest, auch stimmlich betrachtet, ein hübsches Pärchen (Platz klingt, wie Morgan, im ersten Akt an manchen Stellen, was dem Bühnenbild geschuldet sein mag, zu leise, aber seinem eher leichten Tenor zu lauschen ist immer gut). Nicht hübsch, sondern robust: das ist der Eisenstein des Joachim Goltz. Das letzte Mal – es ist schon lange her – sah und hörte ich ihn als Amfortas in der Würzburger Erstaufführung des Parsifal, nun leidet er an der Aussicht auf acht Tage Häfn (österreichisch: „Knast“). Nein, dieser Eisenstein ist nicht charmant, aber unterm Strich ein witziger Typ; kein Wunder, dass ihm die fesche Rosalinde schlussendlich Verzeihung gewährt – und auch der Kuss bei Orlofsky war ja schon eine Versöhnung avant la lettre.
Orlofsky ist übrigens in dieser Aufführung besonders schick und besonders gut. Die vorzügliche Corinna Scheurle zuzuhören und anzuschauen, wenn sie sich halb ironisch, halb gespielt und ganz gemimt ihrem vermeintlichen „ennui“ hingibt, ist ein Vergnügen. Gleichfalls rollendeckend, also elegant und wohlklingend: Demian Matushevskyi als Dr. Falke, während Hans Kittelmann den leicht idiotischen Dr. Blind, wie vom Blatt, als komische Nummer präsentiert (running gag: der Fall in den Lift). Bleibt Taras Konoshenko, der einen „Sicherheitschef“ spielen muss, der nicht weiß, wer in der Firma arbeitet. Nun ja… aber spielen und bassistisch singen tut er, wie immer, mit vollem Einsatz. Bleibt ganz zum Schluss eine stumme Figur, die gleichwohl die ganze Zeit anwesend ist. Teresa Erbe, einst Sängerin am Haus, nun schon seit Längerem Souffleuse, darf als „Office Managerin“ so tun, als gehörte sie zum Stück. Das ist, wenn auch nicht dramaturgisch gut, wenigstens sympathisch. Aber Unausgegorenes gehört ja zu dieser Inszenierung wie der Walzer zur Operette, ohne dass unterm Strich für die Musikfreunde ein größerer Rest zu tragen übrig bliebe. Die Musik – und die Musiker – triumphieren schließlich über so manchen „Einfall“, der Rest ist ein großer Applaus, in dem sich auch das souverän und „schmissig“, also so liebevoll wie etwas pauschal aufspielende Orchester unter der Leitung von Sándor Károlyi baden kann. Eine Silvester-Produktion? Ja, schon – auch wenn der Frosch diesmal auf der Strecke blieb.
Frank Piontek, 12. Dezember 2023
Die Fledermaus
Johann Strauß, Karl Haffner, Richard Genée
Staatstheater Nürnberg
Premiere: 25. November 2023
Besuchte Vorstellung: 10. Dezember 2023
Regie: Marco Storman
Musikalische Leitung: Sándor Károlyi
Staatsphilharmonie Nürnberg