„Die Musik ist sauschön“. In der Tat: der junge Mann, der mit der Schulplatzmiete die Vorstellung besuchte, hat vollkommen Recht. Donizettis Lucia di Lammermoor, mit der der Komponist nicht grundlos einen bis heute andauernden internationalen Ruhm erlang, verfügt über eine dramatisch genaue, lyrisch inspirierte, melodisch beseelte, erstklassig orchestrierte und einfallsreiche Musik, die es erklärbar macht, wieso das vor 188 Jahren uraufgeführte „Dramma tragico“ immer wieder neu inszeniert wird.
Neu inszeniert? Man könnte auch, mit einem modischen Wort aus den 70er Jahren, schreiben: neu befragen – denn Ilaria Lanzino hat, wie vielleicht nur sie es im Moment vermag, die Geschichte gleichsam umgestellt, um sie vom sog. Romantischen Kopf des 19. Jahrhunderts auf die Beine der Gegenwart zu stellen. In Nürnberg sorgte – die brieflich mitgeteilten Zuschauerreaktionen und der nicht besonders starke Besucherandrang lassen daran keinen Zweifel – die geschlechtliche Umpolung nicht allein der Titelfigur, sondern auch einer wichtigen Nebenfigur für Kritik. Lanzino, die sich in Nürnberg nach einer Kinderopern-Rusalka, dem Doppelabend Pimpinone – Herzog Blaubarts Burg, dem Liebestrank und der barocken Talestris als Spezialistin inszenierter Geschlechterdiskurse einen Namen gemacht hat, Lanzino hat sich schlicht und einfach gefragt, was uns die Story, die auf Grundlage der archaischen Romeo-und-Julia-Geschichte in einem völlig anderen Zeitalter, mit völlig anderen Erlebnisräumen, Erfahrungen und sozialen wie psychischen Erfahrungen und Fantasien, erfunden wurde, heute noch zu sagen hat. Mit anderen Worten: Sie misstraut einer bloßen Nacherzählung der Handlung, um ihre Umdeutung mit dem (leider zutreffenden) Hinweis auf die alltäglichen Angriffe und Probleme, die die Angehörigen der LGBTQ-Gesellschaft auch in Deutschland täglich erleiden müssen, zu legitimieren.
So wird aus Lucia ein Luca, der in Liebe zu Edgardo entbrannt ist, während aus dem ihr / ihm zwangsweise anverheirateten Arturo logischerweise eine Frau, hier mit Namen Emilia, werden muss. Der Fall wäre nicht mehr als ein weiterer Ausweis eines politisch korrekten, aber dramatisch platten Holzhammer- und Zeigefinger-Theaters, wenn es der Regisseurin und ihren Protagonisten nicht gelingen würde, zunächst einmal eine spannende und bewegende Geschichte zu erzählen, zu der auch noch die Musik „passen“ muss (ob sie „passt“, entscheiden übrigens nicht das Orchester und die Sänger, sondern nur die einzelnen Zuschauer…). Und, oh Wunder – es „passt“ nicht allein deshalb, weil Hosenrollen in der Oper ganz normal sind, was manche Zuschauer vergessen mögen, obwohl sie den Cherubino, den Octavian und den Hänsel schätzen. Wir sehen in Nürnberg auf eine Szene, die, kennte man das Original nicht – so wie die Schüler der Schulplatzmiete – sehr gut „funktioniert“. Die tragische Geschichte Lucas und Edgardos und Emilias, der geschädigten Dritten, sieht gerade so aus, als habe Donizettis Librettist Salvatore Cammarano nichts anderes geschrieben als eben jene Geschichte über die asoziale Verurteilung von Liebesbindungen, die, ginge es mit rechten Dingen zu, keiner Verurteilung unterliegen sollten. Die Statistik, die im Programmheft erläutert wird, spricht leider eine andere Sprache – und bestätigt viele Details und Ideen der Neuinterpretation, die im Grunde nichts anderes macht, als das alte Stück für uns auch szenisch-inhaltlich so zu präsentieren, dass das Ferne plötzlich ganz nah ist. Dass auch rein historisierende Aufführungen ein Maximum an unmittelbarer Wirkung und Logik besitzen können, wenn sie nur gut gemacht sind: auch das gehört allerdings zur Wahrheit der Gattung Oper…
Original? Man spielt, der Purist mag es bedauern, auch in Nürnberg nicht rundweg das, was sich Donizetti und Cammarano ausgedacht und im Notentext fixiert haben. Dabei liegt doch schon seit Jahrzehnten eine kritische Partitur vor, dabei weiß man nun doch schon seit 2004, dass die berühmte „Cadenza“, die in Lucias „Wahnsinnsarie“ die Flöte mit dem Sopran koloraturprächtig konfrontiert, eine Komposition der Mathilde Marchesi für Nelly Melba ist. Hier wird sie gebracht – gleichsam rückübersetzt mit dem Instrument der Glasharmonika, die Donizetti zunächst für diese Szene vorsah, aber in der Partitur aus pragmatischen Gründen ausstrich.
Nun hören wir also die „falsche“ Kadenz mit einem „richtigen“, direkt auf der Bühne platzierten Instrument, das gleichwohl nie für diese Szene vorgesehen war. Und seltsam: innerhalb der Inszenierung funktioniert diese die ursprüngliche Dramaturgie doch arg störende Einlage plötzlich sehr gut. Denn Lucia / Luca zeigt in seinem letzten Auftritt nicht die bekannten Anzeichen des Wahnsinns, sondern macht aus der Vision einer Hochzeit mit dem Geliebten die pure Realität und äußerst seine Fröhlichkeit, nicht seine Dissoziation, im freundlichen Wettstreit mit dem Glasharmonikaspieler.. Einwände gegen die Umwidmung auch dieser Szene gelten nicht, denn die Musik passt, wenn man sich einmal von der Idee verabschiedet hat, dass der Text wichtiger sei als der musikalische Ausdruck, ganz hervorragend. Musik ist eben, Gerüchten zum Trotz, vieldeutig, die Musik dieser Arie ebenso wahnsinnig krank wie wahnsinnig glücklich. Also kann Luca auch dort, wo vormals auf der oberen, von Emine Güner entworfenen und manchmal durch einen Vorhang vom vorderen Bereich praktisch getrennten Bühnenebene das Bett das zentrale Element war, seinen Edgardo heiraten, bevor dieser von Enrico niedergestochen wird, sie sich aus Verzweiflung (Romeo und Julia!) in einer selbstbestimmten Handlung umbringt und der Tenor am Ende seine letzte Cabaletta singt.
Natürlich steht dies alles nicht bei Donizetti / Cammarano – but it work’s. Der Preis dieser Dramaturgie ist allerdings die Streichung ganzer Szenen, wie sie innerhalb der Lucia-Aufführungsgeschichte gängig waren und bisweilen immer noch sind. Hier fehlt, wie üblich, das Gespräch zwischen Raimondo und Normanno, auch die Begegnung zwischen Enrico und Edgardo zu Beginn des 3. Akts, vor allem aber die Erzählung der Ermordung Arturos durch Lucia, womit sie von der Blutschuld freigesprochen wird. Die Geschichte ist ja schon traurig genug. Und gut, dass man sich in Nürnberg auf die Geschichte von Lucia / Luca, Edgardo und dem „bösen“, aber seinerseits gebrochenen Bruder Enrico konzentriert. Die Regenbogenfarben, das in eben diesen Farben gewandete kleine Tanzensemble und die in ausschließlich kleinkariertem (!) Schwarzweiß (noch einmal: !) gestalteten Kostüme der Homophobiker müssten da gar nicht sein; hier wird die Inszenierung denn doch zum platten didaktischen Theater. Nicht zu dieser Art von Plattitüde scheint mir der Auftritt des Gespensts in Lucias Brunnenvision zu gehören: auch hier stimmt jedes Wort mit dem Auftritt des Mannes, der sich als Frau fühlt, bis zur letzten Fingerregung überein; man lese nur den Text. Hinzuerfunden wurde allerdings der Männertrupp, der Spaß daran hat, den Menschen zu töten. Wie gesagt: die Aufführung übersetzt die romantisch scheinende Szene in eine Handlung, die jenen Worten eingeschrieben ist: symbolisch verschlüsselt und gerade deshalb der Realität der Tat, also des Urvätermords, die das Trauma der Erzählenden bewirkte, durchaus bewusst. Nur, dass die Tat hier keine vergangene, sondern eine immer wiederkehrende ist: Schwule werden täglich verletzt, gedemütigt, beleidigt, ermordet. Wer behauptet, dass dies nicht das Thema von Donizettis und Cammaranos „Lucia di Lammermoor“ ist, mag recht haben. Wer nach dem gemeinsamen Urgrund innerfamiliären Terrors fragt, dürfte mit der Lesart keine Schwierigkeiten haben. Der Hinweis auf die Westside Story, in deren Nürnberger Inszenierung Andromahi Raptis einst die Maria spielte, ist leicht ironisch, aber dramaturgisch zutreffend.
Auch die musikalischen Abläufe gelingen gut. Nicht allein das Glanzstück des Sextetts, des klassischen „Pezzo concertato“, ist bravourös. Andromahi Raptis spielt und singt die Titelpartie hinreißend empathisch; die „Wahnsinnsarie“ ist ein Glanzstück dieses Abends, das weniger auf das voyeuristische als das sensible Interesse der Zuhörer am jungen Mann spekulieren kann, der gerade sein kurzes Lebensglück findet. Raptis verfügt über eine souveräne Höhe, lässt die Spitzentöne prickeln – und wirft sich mit Emphase in die Partie des am Leben, d.h.: an der Familie leidenden Mannes: nicht als „romantisches“ Opfer aus dem Geist des frühen 19. Jahrhunderts, sondern als vitaler junger Mann. Sergei Nikolaev ist der Edgardo, der nicht nur in einem zärtlichen Akt Lucias / Lucas Westside Story-T-Shirt überzieht, sondern auch mit seinem hellen, jugendlichen lyrischen Tenor und jeder Menge Ausdruck das Drama in die Gegenwart bringt. Oper funktioniert ja nicht über Bühnenbilder und „Konzepte“, sondern über singende Menschen – Raptis und Nikolaev harmonieren wunderbar zusammen. Apropos Emphase: Ivan Krutikov spielt und mimt einen äußerst kräftigen, hasserfüllten wie gelegentlich an seiner Vision eines gesellschaftlichen Abstiegs aufrichtig leidenden Enrico, während Sara Šetar ihre kleine, aber unverzichtbare Partie der Emilia vokal und gestisch interessant macht; auch sie gehört, leidenschaftlich und zurückhaltend, zu Enricos Opfern. Schließlich last not least der hörbar beteiligte Charakterbass Nicolai Karnolsky als Raimondo, der Mann „Gottes“, der im ursprünglichen Arrangement Lucia bedrängte, in die ungute Heirat einzuwilligen (womit er zunächst zu den dunklen Mächten dieser Oper gehörte), hier aber als Priester, der das Schwulenpaar verheiratet, zur guten Seite überwechselt (bei Cammarano und Donizetti gehört Raimondo immerhin zu jenen, die am Ende tiefes und völlig vergebliches Mitleid mit Lucia empfinden). Eine schreckliche Geschichte zu einer „sauschönen Musik“, an deren Dissonanzen wir uns gewöhnt haben: der wie immer erstklassige Chor des Staatstheaters und die Staatsphilharmonie Nürnberg haben unter dem Chorleiter Tarmo Vaask und dem Dirigenten Jan Croonenbroeck ihren gewichtigen Anteil am Erfolg dieser Produktion, indem sie frisch und gar nicht bräsig Donizettis spannungsgeladene wie sensitive Tonsprache farbig und rhythmisch gespannt, dabei doch auch entspannt wirkend, aus dem Graben und über die Rampe bringen: die Harfe und die Holzbläser sind ja schon sehr sehr gut.
Gewiss: Die Produktion mag nicht alle Zuschauer ansprechen. Es verschlägt nichts: Gutes Musiktheater kann, muss aber nicht Jeden erreichen. Nur eins stimmt am Abend wirklich nicht: der Titel der Oper. Man sollte ihn, da auch die Übertitel die Namen von Lucia und Arturo ausgetauscht haben, konsequenterweise in „Luca di Lammermoor“ umwandeln. Alles andere ist inkonsequent – und den uninformierten wie informierten Zuschauer verwirrend.
Frank Piontek, 12. Dezember 2023
Lucia di Lammermoor
Gaetano Donizetti
Staatstheater Nürnberg
Premiere: 5. November 2023
Besuchte Vorstellung: 9. Dezember 2023
Regie: Ilaria Lanzino
Staatsphilharmonie Nürnberg
Musikalische Leitung: Jan Croonenbroeck