Nürnberg: „Hänsel und Gretel“, Engelbert Humperdinck

Der Besuch einer Aufführung von Hänsel und Gretel birgt ja selbst für den hartgesottensten Opernkritiker die Gefahr, dass ihm plötzlich vor Ergriffenheit der innere Griffel aus der Hand fällt und aus seinen Augen plötzlich die Tränen rinnen. Ein „Kinderstück“, im besten Fall verbunden mit Kindheitserinnerungen wie, im Normalfall, sonst nur ein zweites sie birgt, die Zauberflöte. Dass einem unversehens ein Gedicht von Hermann Hesse in den Sinn kommt, muss nicht verwundern. Es heißt Die Zauberflöte am Sonntagnachmittag und wurde vor bald 100 Jahren geschrieben, aber es hat, zumindest zeilenweise, immer noch seine Gültigkeit. „Zauberhaft grüßte mich die unsterbliche Schöne“, dem lyrischen Ich, Hesse ganz er selbst, laufen die Tränen über die Wangen, dann erzürnt er sich über die „Sonntagsphilister“, die sein, des Steppenwolfs geliebtes Stück, zu loben wissen und nach Hause laufen, während er, der an sich und seiner verpfuschten Gegenwart leidende Opernbesucher, Lust hat, sich nach dem Besuch der Aufführung umzubringen.

Fotos: © Jutta Missbach

Nein, die Wiederaufführung der Nürnberger Erfolgsinszenierung von Humperdincks unsterblicher Schönheit, seinem chef d‘oeuvre, lässt vermutlich nur die zumindest szenisch und damit – das Eine hängt mit dem Anderen untrennbar zusammen – auch musikalisch kalt, die die Konzeption ästhetisch misslungen finden oder das Werk eben nicht als kindgerecht betrachten. Die meisten Besucher aber dürften in etwa das empfinden, was in einem Essay von Ernst Bloch einen guten Platz finden könnt. Seine „Zauberrassel“ wäre in diesem Fall die Intelligenz, mit der das Geschwisterpaar mit vereinten Kräften das resp. die Böse bekämpft. Der Rest ist metaphysisch: „Wenn die Not aufs Höchste steigt…“. Seltsam, dass der Philosoph die Oper in seinem monumentalen Prinzip Hoffnung nicht einmal streift. Aber logisch, dass auch heuer wieder in der 18-Uhr-Vorstellung, einen Tag vor der Bescherung, nicht wenige, wenn auch nicht viele Kinder im Haus sitzen, um mal mehr, mal weniger interessiert zur Bühne zu schauen, die sie, da‘s ein traditionell gebautes Theater mit den bekannten dramatischen Sichteinschränkungen auf den billigen Plätzen ist, teilweise nur teilweise zu sehen vermögen (merke: Wer mit Kindern in  die Oper geht, muss dafür sorgen, dass sie die besten Sichtplätze bekommen – alles andere ist Unsinn).

Fotos: © Jutta Missbach

Solche Gedanken – sie gehören schon zum Abend selbst – mögen einem kommen, wenn man Hänsel und Gretel kurz vor Weihnachten des Kriegsjahres 2022 besucht. Diesmal sind es Andromahi Raptis als Hänsel und Corinna Scheurle als Hänsel, die in die Folge der Fußstapfen der Erstinterpretinnen der Inszenierung Andreas Baeslers getreten sind. Raptis ist eine ganz frauliche, entzückend bewegt artikulierende, liebenswürdige Gretel, Scheurle verleiht dem hochaufgeschossenen Hänsel ihren hohen Mezzo, der eher das Geschwisterhafte als das geschlechtlich und mentalitätsmäßig Andere des Bruders betont – und beide provozieren das Publikum zu einem starken Beifall, den ansonsten – natürlich – der Kinderchor des Staatstheaters Nürnberg für seinen einzigen und so wichtigen Auftritt der erlösten Lebkuchenkinder erhält – und wie Jochen Kupfer, der einzige „Ur-Vater“ der 2014er-Aufführung, der seinem Besenbinderhandwerk mit seinem prachtvoll strömenden wie eleganten, sich so gut für die Charakterzeichnung des gescheiterten Fabrikanten von anno 1895 eignenden Bariton treu geblieben ist. Emily Newtons Mutter kennen wir seit der letzten Wiederaufnahme im Jahr 2018; ihre Stimme ist die einer gestressten, also dramatisch aufgeladenen Lady, ihr Spiel ist so sympathisch wie das ihrer Kolleginnen und Kollegen, d.h: Man kann der Hexe der Almerija Delic, bei der man bisweilen den zarten Verdacht hat, dass sie nur mit den Kindern spielt und sich einen bösen Scherz aus ihren Ängsten macht, was dem Grundgedanken der Inszenierung nicht vollends widersprechen würde, man kann dieser „Knusperhexe“  zumindest als einigermaßen erwachsener Zuschauer nicht eigentlich böse sein.

Fotos: © Jutta Missbach

Ob sich die Kinder in der Vorstellung vor dem eine schwarze Pädagogik ausübenden Hausmädchen fürchten, das in der Fantasie der Erziehungsopfer zu einem Monster wird: keine Ahnung, auch wenn der vielleicht siebenjährige schwatzende Knabe zu meiner Linken denn doch von der Old-Style-Gestalt irgendwie und irgendwo beeindruckt schien. Man weiß ja so wenig über die Kinder. Bleibt Veronika Loy, die das Sand- und das Taumännchen relativ (!) herb ins Haus bringt und singt – so kernig, wie die Staatsphilharmonie Nürnberg unter Lutz de Veer manch forte-Passage samt Pauken und Posaunen in den Zuschauersaal dringen lässt. Die bekannt prekäre Akustik des Nürnberger Opernhauses, in dem ein piano ein Ereignis ist, aktiviert weniger den sublimen als den treudeutsch polternden Humperdinck, aber auch das ist in Ordnung, wobei ich mich frage, ob die Musiker aus dem phrasierungsmäßig stellenweise problematischeren oder dem neuen, aufgrund aller überlieferten Handschriften redigierten und veröffentlichten Notenmaterial der letztgültigen Ausgabe spielen. Hänsel und Gretel ist, auch in dieser Inszenierung, schließlich ein Riesenschmankerl für fast alle.  Sie sieht auch an diesem Abend, nicht allein in der zauberischen Traumpantomime mit ihren 14 weißgekalkten Urahnengeln, den familiären Schutzgeistern (was für eine gute, bewegende, bildmächtige Idee!), herrlich aus.

Kann man Hänsel und Gretel, wie Hesse es in einer besonders verzweifelten Lebensphase anlässlich der Zauberflöte ausdrückte, kann man die Musik der Oper allzu sehr lieben? Blödsinn! Ansonsten wäre, glaube ich, der Beifall des zwar gemischten, aber mehrheitlich denn doch älteren Publikums ein Zeichen für eine Abhängigkeit, die es schnellstens abzustreifen gälte. Wer aber, hätte der Opernliebhaber und Kenner Ernst Bloch vielleicht geschrieben, im Stecken, den der kluge Hänsel der Hexe als Finger reicht, einen Zauberstab der Hoffnung sieht, weiß, warum er immer wieder am Freitagabend oder Sonntagvormittag in die Oper – und in die Nürnberger Inszenierung des Meisterstücks geht.

Frank Piontek, 24. Dezember 2022


„Hänsel und Gretel“

Engelbert Humperdinck

Nürnberg / Staatstheater

23. Dezember 2022

Inszenierung: Andreas Baesler

Dirigat: Lutz de Veer

Staatsphilharmonie Nürnberg