Wiesbaden: „Die Meistersinger“, Richard Wagner

Man riecht ihn förmlich, den provinziellen Wirtshausmief aus abgestandenem Bier, Putzmittel und 60er Jahre-Linoleum. Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ in der Inszenierung von Bernd Mottl (Premiere am 29. September 2018) im Hessischen Staatstheater Wiesbaden lassen tief in die selbstgefälligen Bürgerseelen eines deutschen Vereins zur Pflege von Traditionen blicken, die nur noch um ihrer selbst willen hochgehalten werden. Bereits das Vorhangbild, das an in eine Nürnberger Lebkuchendose aus den frühen 70ern erinnert, macht unmißverständlich klar, daß hier nichts Neues zu erwarten ist. Man kennt das alles so gut von diesen Kneipen mit Festsaal: die Buntglas-Imitat-Folien an den Fenstern, das geflämmte dunkle Holz, den nervigen Spielautomaten und die tümelnde Frakturschrift der Gastwirtschaft, die in Friedrich Eggerts großartig kleinbürgerlichem Bühnenbild natürlich „Alt-Nürnberg“ heißt. Modern sind allein die omnipräsenten Daddelgeräte der jüngeren Generation, vulgo Mobiltelephone; die Kassengestell-Brillen der Vereinsmeier und ihre Polyester-Klamotten – auch die Kostüme sind von Friedrich Eggert – haben ebenfalls schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel. Schön, daß sich hierher ein Ritter von außerhalb verirrt, seine Rüstung ist eine Motorradkluft und sein Roß dürfte einem japanischen Rennstall entstammen. Sein Herzensmädchen und er kennen sich offenbar schon länger, aber ganz öffentlich haben sie es noch nicht gemacht.

Bernd Mottl ist eine völlig ungezwungene und in sich schlüssige Aktualisierung derjenigen Wagner-Oper gelungen, aus der am ehesten die braune Brühe läuft und man möchte den haßgeliebten „Meesta“ für die letzte Sätze von Hans Sachs wieder mal ohrfeigen, weil es auch ohne den inflationären Gebrauch des Adjektivs „deutsch“ jeder kapiert hat, daß hier auf Krampf polarisiert wird. In Wiesbaden braucht es keine Hakenkreuzfahnen oder sonstigen plakativen Hinweise – diese Spießer entlarven sich und ihre Engstirnigkeit selbst. Hier haben neue Ideen keine Chance, und das Potential an AFD-Stimmen dürfte deren laut Umfragen 20% in dieser auch vom Pullover-Design her kleinkarierten Runde deutlich übersteigen, was die fünf Jahre alte Produktion brandaktuell macht. Allein einem der altgedienten Riege ist bewußt, daß man sich auch neuartigen Gedanken öffnen sollte, bevor er wieder in das Loblied der Tradition zurückfällt.

Hans Sachs läßt sich zwar von seiner Gewandung her nicht von den anderen unterscheiden, aber sein Witz und seine Menschlichkeit heben ihn doch aus der Langweiler-Gesellschaft heraus. Derrick Ballard gibt diesen alten Meister und man nimmt ihm die aufrichtige Väterlichkeit in jedem Moment ab. Sein Baßbariton ist voll und warm, dazu mit exzellentem Textverständnis. Daß ihm im 3. Aufzug mehrmals souffliert werden muß, stört nicht, weil die Verzüge so gering sind, daß es den Fluß nicht behindert. Er läßt sich nichts anmerken und singt in sicherer Selbstverständlichkeit einfach weiter. Der Lack ist bei diesem Sachs auch schon ab und erst in seiner Wohnung wird offenbar, daß er bereits die professionelle Pflege einer sozialen Einrichtung in Anspruch nehmen muß. Ein Symbol auf dem gemeinsamen Wohnhaus weist darauf hin, daß auch die anderen, in die Jahre gekommenen Vereinsmitglieder mittlerweile darauf angewiesen sind. Die alte Meisterschaft ist an sich und als Ganzes zum Pflegefall verkommen.

Einer der vielen schönen Einfälle ist die einsame Dia-Schau mit den typischen farbstichigen Photos aus den 60er und 70er Jahren, die das Leben des Schustermeisters mit dem einstmals florierenden Schuhladen, dem Tod seiner Frau, dem geschäftlichen Bankrott und dem Abriß des Stammhauses in aller Härte entblättert. Da wird in psychologischem Tiefgang ein Lebensbild gemalt, das jede Bitternis verständlich macht.

(c) Karl und Monika Forster

Sein Gegenspieler Beckmesser ist Thomas de Vries mit Franz Liszt-Frisur und damit einem aufgesetzten Künstler-Habitus; er fordert von anderen mehr, als er selbst erfüllen kann. Sein wandlungsfähiger Bariton gibt der Rolle reizvolle Facetten und er ist nicht nur der alte, lächerliche Meckeronkel, sondern es ist durchaus klar, daß der ideologisch verknöcherte Mann wirklich gefährlich werden kann. Er spielt phantastisch – sein versungenes Lied im dritten Aufzug mit klimpernder Beckmesser-Harfe (Kristina Kuhn) ist zum Tränenlachen komisch – und eine der großartigsten Szenen der ganzen Produktion ist die, in der er bei Sachs durchs Fenster steigt und den Text des Preisliedes klaut. Die ohnehin intelligente und detailverliebte Personenregie (Spielleitung Silvia Gatti) entwirft hier ein Slapstick-Stück, in dem Musik und Bewegungen, Schritte, ja Mimik so fein aufeinander abgestimmt sind, daß dies wie ein gut gemachter Stummfilm daherkommt. Ganz großes Opernkino!

Frischen Wind in diese enge Welt bringt der junge Walther von Stolzing, den Marco Jentzsch sympathisch und uneitel verkörpert. Er muß nicht den Heldentenor mimen, zu dem macht ihn auf der Festwiese die begeisterte Gesellschaft – jeder will ein Selfie mit ihm schießen und enthüllt damit die eigene Egomanie. Auch bei ihm versteht man jedes Wort, hell und klar dringt seine starke Stimme sogar bei den Chorszenen durch die Masse. Zum Wettsingen wird auch er in ein Kostüm gesteckt, aber es ist keine dieser grellbunten, kunstsamtenen Roben, die fast durchweg lächerliche Karikaturen der Renaissance-Mode sind, sondern ein Lodenanzug. Einerseits erinnert er an den „Mia san mia“-Habitus von CSU-Politikern, andererseits denken diejenigen, deren Kindheit die Schallplatte mit dem „Sängerkrieg der Heidehasen“ von James Krüss prägte, an die Plattenhülle mit dem unbekümmerten Hasen Lodengrün und seinem feschen Jankerl.

Von Beginn an besteht kein Zweifel, daß Walther und Eva füreinander gemacht sind. Betsy Horne gibt die Bürgerstochter charmant und frisch; ihr ausdrucksstarker Sopran entspricht der Rolle als junge Frau, die weiß, was sie will, aber nicht peinlich aus dem Rahmen fallen muß, um auf sich aufmerksam zu machen.

(c) Karl und Monika Forster

Als ihr Vater Veit Pogner muß sich Young Doo Park mit Gehhilfe fortbewegen, zudem ist er blind. Mit kraftvollem Baß verkörpert er den Typus des väterlichen und, bei aller Traditionalität, toleranten Bürgers, der seine Tochter nicht einfach weggibt, sondern ihr das letzte Wort zur Wahl überläßt. Seine Blindheit gemahnt in dieser Inszenierung an die Justitia mit Augenbinde, die Wahrheit oder in diesem Falle echte Kunst nicht nach Aussehen, sondern nach ihrem Inhalt beurteilt. Zu den gesanglich gelungensten Momenten gehört das Quintett von Sachs, Eva, Walther, dem mit schallender Ohrfeige zum Gesellen geschlagenen David und dessen Braut Magdalene. Letztere gibt Anne Schuldt mit freundschaftlicher Nähe, leichtfüßigem Spiel und sympathischer Bodenständigkeit. Benjamin Russell als Fritz Kothner ist wunderbar lächerlich in seiner zivilen und Renaissance-Fest-Kleidung. Er und Gustavo Quaresma als David spielen und singen zwar beide absolut glaubwürdig, aber haben leichte Probleme des Durchdringens, wenn die Tutti-Stellen des Orchesters das Forte verlangen.

Das spielt unter Alexander Joel durchweg dynamisch und entstaubt, was ein erfrischendes Gegenwicht zum miefigen Milieu bildet. Bereits beim Vorspiel zeigen die Musikerinnen und Musiker, daß die zehntausendmal gehörte Musik auch zu Besserem als Riefenstahl-Film-Untermalung taugt. Das Blech ist hervorragend und hat später einen ganz großen, schmetternden Auftritt auf der Festwiese. Oboe und Flöten zeichnen feinere Linien, alles ist ausgewogen und satt, aber niemals protzend.

Der Chor präsentiert in allen Stimmlagen Fülle und dennoch Delikatesse, weil auch bei den Momenten mit Solisten und breitem Orchesterklang nie ein Tonbrei entsteht. In der Prügelszene, die hier als Punk-Party mit Totenkopffahnen, schwarzledern gekleideten Jugendlichen mit Ghetto-Blaster und auf der Gegenseite verwirrten, aus der Nachtruhe gerissenen Bürgern in Schlafanzügen wild gefeiert wird, geraten auch die Stimmen aneinander, aber bei allem Chaos bleibt immer die Struktur erkennbar. Der Empfang der Meistersinger zum Finale hin entfaltet eine wuchtige Opulenz und phantastische Farbigkeit, was tatsächlich Gänsehaut verursacht. Gerade beim „Wach´ auf“ haben sich die Wiesbadener ordentlich ins Zeug gelegt und allein diese Szene ist im besten Sinne ein Gesamtkunstwerk, musikalisch, sängerisch und inszenatorisch.

Zum Ende hin gibt es noch einen Regie-Geniestreich, indem die Wand über der Bühne mit dem angedeuteten dunkelbraunen Kiefernlatten-Fachwerk auch in der Szene aufragt und die Übertitel genau wie für das Publikum auch dort für die Festgäste eingeblendet werden. Dadurch verschwimmt die Grenze zwischen Bühnengeschehen und Zuschauerraum und man stellt fest, daß man plötzlich zu „denen da“ gehört und sich fragen muß, wie man selbst sich auf dieser provinzverhafteten Spießerwiese verhielte.

Der schwer erträglichen Polarisierung von „welscher“ und deutscher Kunst begegnet die Produktion mit der blinkenden Einblendung „Deutsche Meister“ und dem Schwenken von, dem Nürnberger Stadtwappen entsprechend, rot-weißen Bändern, was an chauvinistisches Gehabe bei Fußballveranstaltungen gemahnt. Da darf man ja auch endlich mal wieder die Nationalfahne schwenken und Lokalpatriotismus ist sogar Pflicht.

„Das Heil’ge Röm’sche Reich…die heil’ge deutsche Kunst! Heil Sachs!“ Zuviel Heil, man kennt den Rest. Daß einem das in Wiesbaden nicht platt um die Ohren gehauen wird, sondern diese Produktion Nationalismus und messianische Selbstbeweihräucherung des Meisters aus Leipzig einfach auf die selbst ausgelegte Harke treten läßt, macht, unter vielem anderem, deren Qualität aus.

Dafür sowie für all die solistischen, choralen und orchestralen „Meister“-Leistungen gibt es langanhaltenden Beifall mit vielen Bravo-Rufen. Was für ein großartiger, intelligenter, erfüllender Opernabend!

Andreas Ströbl, 11. Juli 2023


Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg

Hessisches Staatstheater Wiesbaden

8. Juli 2023

Musikalische Leitung: Alexander Joel

Inszenierung: Bernd Mottl

Hessisches Staatsorchester Wiesbaden