Wiesbaden: „Aus einem Totenhaus“, Leoš Janáček

Der Tod des Komponisten Leoš Janáček im Jahr 1928 markierte das Ende einer Ära und hinterließ eine Lücke in der Musikwelt. In den letzten zehn Jahren seines Lebens erlebte Janáček eine kreative Blütezeit, die von einem beeindruckenden künstlerischen Ergebnis gekennzeichnet war. Er komponierte nicht weniger als fünf Opern und schuf mit Werken wie „Taras Bulba“ und der „Sinfonietta“ zwei seiner bekanntesten Orchesterkompositionen. Janáčeks Musik ist einzigartig und unverkennbar. Sie spiegelt seine tiefe Verbundenheit mit seiner Heimatsprache wider, und es war ihm von größter Bedeutung, die Klangfarben und Rhythmen der mährischen Sprache in seine Musik einzufangen. Ein charakteristisches Merkmal seiner Kompositionen sind die wiederkehrenden Textwiederholungen, die seine Werke prägen und ihnen einen ganz eigenen Reiz verleihen. Obwohl Janáčeks Opern weltweit aufgeführt werden, gelten sie in vielen Teilen Westeuropas als „Kassengift“. Die Vorstellungen sind oft spärlich besucht, und einer der Hauptgründe dafür liegt wohl im Dogma der Originalsprache.

Auf dem Bild Aaron Cawley, Chor / Foto: Karl und Monika Forster

Es ist lobenswert, dass Janáčeks Werke in ihrer originalen Sprache aufgeführt werden, doch dieser künstlerische Ansatz ignoriert häufig die Notwendigkeit, das Publikum für die Werke zu öffnen und zu begeistern. Janáček war kein Mainstream-Komponist, und seine Musik erfordert von den Zuhörern ein gewisses Maß an Hingabe und Einfühlungsvermögen. Um seine Opern wirklich zu verstehen, ist es für das Publikum unerlässlich, die übertitelten Texte mitzulesen. Dies führt jedoch dazu, dass die Aufmerksamkeit vom Bühnengeschehen abgelenkt wird. Zudem müssen die Sänger eine schwierige Sprache phonetisch erlernen und dann sprachlich wie ein Papagei agieren, ohne die emotionale Tiefe und Nuancen der Originalsprache angemessen zum Ausdruck bringen zu können.

Ein bemerkenswertes Beispiel für Janáčeks Werk ist seine Oper „Aus einem Totenhaus“, die auf einer Erzählung von Fjodor Dostojewski basiert. Die Handlung spielt in einem Straflager in Sibirien und erzählt die Geschichten der Insassen, die auf unterschiedliche Weise mit ihrer Vergangenheit konfrontiert werden. Die Oper wurde erstmals im Jahr 1930 in Brünn, Janáčeks Heimatstadt, uraufgeführt und ist seitdem zu einem wichtigen Bestandteil des Opernrepertoires des 20. Jahrhunderts geworden. Der Komponist selbst erlebte die Uraufführung nicht mehr, hielt sie jedoch für sein bestes Opernwerk. Ihm war es besonders wichtig zu zeigen, dass in jedem Menschen „der Funke Gottes“ steckt. Tatsächlich gelingt es Janáček, dem großen Empathiker, dass das Publikum mit den Leidensgestalten, den Verbrechern, Mitleid empfinden kann. Seine Musik dringt tief in die Seele und nimmt Partei, auch für die Täter. Im „Totenhaus“ stehen die Geschichten von vier Verbrechern im Mittelpunkt, die ohne musikalische Kommentierung grausam wirken. In Janáčeks musikalischer Gestaltung wirken diese Berichte als menschliche Abstürze, die erschüttern.

© Karl und Monika Forster

Die Inszenierung von „Aus einem Totenhaus“ wurde vom Gastregisseur Nicolas Brieger übernommen. Er erzählte die Handlung geradlinig und überzeugte mit einer schlüssigen Personenführung. Zu Beginn sind Aktenschränke zu sehen, die als Versteck für Protestplakate dienen. Im weiteren Verlauf werden viele Abbildungen der Insassen auf der Rückseite der Schränke gezeigt. Leider inszenierte Brieger das Vorspiel, das die Verhaftung von Gorjantschikov zeigt, auf überflüssige, ärgerliche Weise. In dieser hektischen Szene wird unentwegt auf einer Schreibmaschine getippt, was den musikalischen Vortrag deutlich stört. Dies ist respektlos gegenüber dem Hessischen Staatsorchester Wiesbaden, das in diesem Stück bis an seine Grenzen gefordert ist und im wichtigen Vorspiel volle Aufmerksamkeit verdient hätte. Und auch für die Zuhörer wäre die volle Konzentration auf die Musik hilfreicher gewesen, da im Vorspiel wichtige Motive der Oper vorgestellt werden.

Ein großer Propeller dominiert den Bühnenraum und erweckt bedrohliche militärische Assoziationen. Holzsärge werden als Versteck für die Häftlinge verwendet. Zudem ist ein großes Skelett eines Wals zu sehen, das blitzblank gereinigt auf der Bühne steht und Raum für Spekulationen lässt. Die Erzählungen der Häftlinge wirken berührend und nicht überzeichnet. Die Darstellung der individuellen Schicksale gelingt überzeugend. Die Pantomime hingegen gerät einfallslos und langatmig. Auch die geänderte Schlussszene erscheint völlig entbehrlich. In der Wiesbadener Inszenierung verlässt der Häftling Gorjantschikov nicht wie vorgesehen das Lager als freier Mann, sondern wird hinterrücks vom Kommandanten erschossen. Dies ist nicht überzeugend, da Janáček mit der Freilassung eines Menschen und dem Symbol des Adlers ein Zeichen der Hoffnung setzen wollte.

© Karl und Monika Forster

Die Darsteller beeindruckten mit einer hervorragenden schauspielerischen Leistung und ihrer Fähigkeit, die Leidensgeschichten der Insassen auf berührende Weise zu vermitteln. Im Zentrum der Aufführung stehen die Tatberichte der Insassen. Aaron Cawley als Luka, der in Wirklichkeit als Filka Morosov bekannt ist, verkörperte den verschlagenen und lüsternen Charakter mit einer überzeugenden Interpretation und markanten Tenortönen. Seine Darbietung war geprägt von einer überraschenden Farbgebung und einem erschreckend realistischen Ausdruck in seinem Todeskampf.  In deutlichem Kontrast dazu wirkt Samuel Levine als der dem Wahnsinn nahe Skuratov mit anrührenden Farben. Wie viele seiner Vorgänger in dieser Rolle kämpfte er allerdings hörbar in den hohen Lagen mit den exponierten Tönen.

Der erfahrene Bariton Claudio Otelli verkörperte den Schischkov als eine tickende, vor sich hinbrütende Zeitbombe. Mit meisterlichem Geschick und großem Können steigerte er seine umfangreiche Erzählung zu gewaltigen Ausbrüchen. Auch er wirkte dem Irrsinn nahe, als er erkennt, dass sein einstiger Widersacher Filka (Luka) während seines Vortrags stirbt und die ganze Zeit im Lager an seiner Seite war. Otelli gelang es, die Zuschauer mitzureißen und die erschütternde Wirkung der menschlichen Abstürze, wie sie in Janáčeks Musik zum Ausdruck kommen, spürbar zu machen.  Christopher Bolduc als stimmlich blasser Gorjantschikov zeigte starke spielerische Interaktionen mit dem ihn verehrenden jungen Aleja, normalerweise eine Hosenrolle für Sopran, hier jedoch sensibel vom Tenor Julian Habermann gestaltet. Die beiden Darsteller verliehen ihren Charakteren Tiefe und Sensibilität, und ihre Beziehung auf der Bühne war berührend und überzeugend. Albert Horne hat seinen Herrenchor gut auf die anspruchsvolle Aufgabe vorbereitet.

Der Dirigent Johannes Klumpp wurde mit der Aufgabe betraut, „Aus einem Totenhaus“ zu dirigieren und den Abend musikalisch zu leiten. Leider gelang es ihm nicht, eine tiefgehende Verbindung zur Musik von Janáček herzustellen und die erforderliche emotionale Intensität zu vermitteln. Sein Dirigat blieb solide, konnte jedoch nicht die volle Bandbreite und Ausdruckskraft der Komposition einfangen. In den schwierigen Rhythmen und schroffen Farben fehlte es Klumpps Interpretation an Markanz. Die lyrischen Passagen wurden allzu unterbelichtet dargeboten, und es fehlte an klanglicher Intensität und dynamischer Vielfalt. Dies führte dazu, dass die musikalischen Nuancen und Feinheiten von Janáčeks Werk nicht angemessen zur Geltung kamen. Eine solche Zurückhaltung und Kontrolle mag in manchen Musikstücken angemessen sein, aber bei Janáček erfordert es eine besondere Hingabe und eine kraftvolle Interpretation, um das volle Potenzial seiner Musik zu entfalten. Besonders bedauerlich ist, dass Klumpps Dirigat die seelischen Tiefen der Komposition nicht mit der notwendigen Emphase musizieren konnte. Janáčeks Musik ist von einer emotionalen Intensität und tiefen Menschlichkeit geprägt, die in der Aufführung unbedingt zum Ausdruck gebracht werden sollte. Leider konnte Klumpp diese Aspekte nicht vollständig erfassen und dem Publikum vermitteln. Es ist wichtig anzumerken, dass das Dirigieren von Janáčeks Musik eine große Herausforderung darstellt und eine besondere Sensibilität erfordert. Die Komplexität seiner Kompositionen macht ein tiefes Verständnis für den musikalischen Ausdruck und die emotionale Substanz notwendig, um sie erfolgreich zu interpretieren. Leider gelang es Klumpp nicht, diese Herausforderung vollständig zu meistern und die Musik von Janáček in ihrer ganzen Pracht erstrahlen zu lassen.

Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden zeigte in der Aufführung von „Aus einem Totenhaus“ ein hohes Engagement und eine beeindruckende spielerische Qualität. Trotz der Herausforderungen, die Janáčeks Musik mit sich bringt, bewältigte das Orchester die anspruchsvolle Partitur mit Geschick und Hingabe. Besonders bemerkenswert waren die vielen Solobeiträge, die von den Mitgliedern des Orchesters mit gut bewältigt wurden. Insbesondere der Konzertmeister brillierte mit berührenden Soli. Das Zusammenspiel des Orchesters war gut koordiniert und harmonisch. Es gelang, die komplexen Strukturen von Janáčeks Musik zu bewältigen und den vielschichtigen Klangteppich mit Präzision zu gestalten. Die musikalischen Phrasierungen wurden feinfühlig umgesetzt und trugen zur Gesamtwirkung der Aufführung bei.

© Karl und Monika Forster

Es ist lobenswert, dass das Hessische Staatsorchester Wiesbaden in der Lage war, sich den schweren Anforderungen von Janáčeks Musik zu stellen und ihr gerecht zu werden. Das Engagement des Orchesters und dessen spielerische Qualität trugen maßgeblich zum Gelingen der Aufführung bei und ermöglichten es dem Publikum, die Musik von Janáček in seiner Besonderheit zu erleben. Die musikalische Darbietung eines Werkes wie „Aus einem Totenhaus“ hängt maßgeblich von der Qualität des Orchesters ab. Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden hat diese nicht alltägliche Herausforderung beachtlich gemeistert.

Was bleibt von diesem Abend? Es handelte sich um eine recht gute Inszenierung mit einem fabelhaft spielfreudigen Sängerensemble, das sich jedoch mit einer zu schweren und fremden Sprache abmühen musste. Der Dirigent konnte leider nicht die seelischen Tiefen der Komposition mit der erforderlichen Hingabe musizieren. Das Hessisches Staatsorchester bewältigte die außerordentlichen Anforderungen auf gutem Niveau. Das nur spärlich besetzte Auditorium applaudierte anerkennend.

Dirk Schauß, 24. Juni 2023


Aus einem Totenhaus

Leoš Janáček

Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Besuchte 23. Juni 2023

Regie: Nicolas Brieger

Dirigat: Johannes Klumpp

Hessische Staatsorchester Wiesbaden