Wiesbaden: „Rusalka“, Antonín Dvořák

Wenn Sänger ins Regiefach wechseln, geschieht das zumeist nach Beendigung der aktiven Bühnenkarriere. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Brigitte Fassbaender, die als international gefeierte Mezzosopranistin bereits im Alter von 56 Jahren die Profession wechselte und mit inzwischen rund 90 Inszenierungen eine der wichtigsten Opernregisseure im deutschsprachigen Raum geworden ist. Zuletzt hatte sich am Staatstheater Wiesbaden die (ehemals) hochdramatische Sopranistin Evelyn Herlitzius an der Regie von Beethovens sperrigem „Fidelio“ verhoben. In der aktuellen Neuproduktion von Antonín Dvořáks Spätwerk Rusalka hat sich nun mit Olesya Golovneva eine aktive Sängerin der Herausforderung der Inszenierung gestellt und auch gleich noch die Titelpartie übernommen. Die Wiesbadener Intendanz hat ihr gleichberechtigt die Regisseurin und Bühnenbildnerin Daniela Kerck zur Seite gestellt. Auf Kerck dürfte der Einsatz von Videoprojektionen zurückgehen, welche die schlichten Wände des von ihr entworfenen Einheitsbühnenbilds beleben. Diese Videos (Astrid Steiner) zeigen atmosphärisch dichte Unterwasserbilder, in denen malerisch und in Zeitlupe Luftblasen aufsteigen, gelegentlich auch Gestalten in wallenden Kleidern umherschwimmen. Das sieht sehr gut aus und trägt die Inszenierung auch eine ganze Weile, kann jedoch die Frage nach der Erzählhaltung nicht vollständig verdrängen.

Olesya Golovneva als Rusalka / © Karl und Monika Forster

Schon zur Ouvertüre erscheint die Nixe Rusalka in dieser Unterwasserwelt und schaut sehnsüchtig auf einen die Rückwand bestimmenden Bilderrahmen, in welchem doch nur wieder via Videoprojektion das Meer schäumt. Es bleibt also höchst unklar, wonach Rusalka sich denn sehnt. Die Menschenwelt ist es offenbar nicht. Auch im weiteren Verlauf wird nicht immer deutlich, was das Regieteam denn mitteilen möchte. Ein durchgängiges Stilmittel ist die Vervielfachung der Hauptfiguren. So wird dem Prinzen ein kleinwüchsiger Doppelgänger zur Seite gestellt, der ihm an Kleidung und Barttracht gleicht, dem jedoch für den Verlauf der Handlung keine zwingende Funktion zugeteilt wird. Einleuchtender erscheint die Umwidmung der drei Waldgeister zu Geschwistern der Wassernixe, ihr ähnlich mit langen braunen Haaren versehen und in luftige weiße Kleider gewandet. Darin folgen die Regisseurinnen der westeuropäischen Erzähltradition, etwa der Kleinen Meerjungfrau von Hans Christian Andersen. Auch bei der Weiterspinnung des Märchenstoffes durch den Disney-Konzern hat sich das Produktionsteam bedient. Wie in Arielle, die Meerjungfrau nimmt hier die böse Hexe die Gestalt der Nixe an, um an ihrer statt den Prinzen zu verführen. Dazu werden die beiden Opernfiguren der Ježibaba und der fremden Fürstin zusammengelegt. Als fremde Fürstin tarnt sich die im ersten Akt noch kahlköpfige Hexe mit einer braunen Langhaarperücke und tritt in eben solch einem Hochzeitskleid auf, wie es der Prinz für Rusalka zur Vermählung bereitgelegt hat. Anders als in der Disney-Version bleibt aber das Motiv der Hexe völlig unklar. Machtstreben ist es jedenfalls nicht. Es muß wohl schiere Boshaftigkeit sein. Mimisch wie stimmlich gelingt diese dramaturgisch unausgereifte Verschmelzung der beiden Figuren aber durch die Gesangs- und Schauspielkunst von Katrin Wundsam. Sie kann ihrem ungewöhnlich hell timbrierten Mezzosopran ebenso glaubhaft scharfe Hexentöne wie die verführerischen Klänge der Fürstin abgewinnen.

Katrin Wundsam als Ježibaba / © Karl und Monika Forster

Das Konzept der Personenvervielfachungen wirkt wie ein nicht zu Ende gedachter Regieeinfall, der ohne Schnittstellen neben die sehnsuchtsschwangeren Wasservideos gestellt wurde. Womöglich hat diese Produktion eine Regisseurin zu viel, wurden hier zwei Ansätze einfach zusammengebunden und stehen sich nun ein wenig gegenseitig im Weg. Die Personenführung gelingt in den Interaktionen desungeachtet flüssig und plausibel. Dabei hätte man aber auf die platte Albernheit, die drei Nymphen bei ihrer Erzählung vom Prinzen demonstrativ in der aktuellen Biographie von Prinz Harry blättern zu lassen, ebenso verzichten können wie auf das überflüssige Schneegeriesel, das gegen Ende klischeehaft als Kältemetapher eingesetzt wird. Und bereits bei der Enthüllung mehrerer Stapel von Stühlen in der ersten Hälfte ahnt man, daß sie nur deswegen aufgestellt wurden, um später von diversen Beteiligten als Zeichen des Gefühlsüberschwangs (wahlweise Wut oder Verzweiflung) krachend umgeworfen werden zu können.

Ihr ist, als ob es tausend Stühle gäbe … / © Karl und Monika Forster

Musikalisch präsentiert sich die Premiere ohne Schwächen. Die Rusalka ist so etwas wie eine Paraderolle von Olesya Golovneva, die sie bereits in Frankfurt, Madrid, Köln, Stuttgart und Dresden gesungen hat. Zu erleben ist nun ein ausgereiftes und musikalisch genau ausdifferenziertes Porträt einer jungen Frau zwischen sehnsuchtsvoller Hoffnung und tiefer Enttäuschung. Auch Gerard Schneider profitiert von seiner Rollenerfahrung als Prinz. Für seinen saftigen lyrischen Tenor erscheint die Partie ideal. Schneider ist inzwischen klug genug, seine zuletzt beim Einsatz im italienischen Fach gefährdete Höhenlage nicht durch gestemmte Brusttöne überzustrapazieren, sondern elegant die Kopfstimme und Falsetttöne zu nutzen. Derrick Ballard gibt den Wassermann mit sonorem Baß. Als Jäger und Heger überzeugt Christopher Bolduc mit seinem jugendlich-kernigen Bariton. Die drei Nixen Donata-Alexandra Koch, Nora Kazemieh und Sarah Mehnert sind gut aufeinander abgestimmt und glänzen sowohl im Terzett als auch solistisch. Stella Ann schließlich gibt mit glockenklarem Sopran einen glaubhaften Küchenjungen. Das Orchester unter der Leitung von Philipp Pointner spielt farbig, wenn auch mitunter recht robust auf.

Atmosphärische Bilder, lebendige Personenregie und eine musikalisch tadellose Besetzung – auch wenn der große dramaturgische Wurf nicht gelungen ist, sich die vielversprechenden Zutaten nicht zum restlos schlüssigen Ganzen fügen, kann man nicht von einem Scheitern sprechen. Und so erhält diese Produktion am Ende vom Publikum ungeteilte Zustimmung.

Michael Demel, 23. Januar 2023


Antonín Dvořák: Rusalka

Staatstheater Wiesbaden

Bericht von der Premiere am 21. Januar 2023

Inszenierung: Olesya Golovneva und Daniela Kerck

Musikalische Leitung: Philipp Pointner

Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

Weitere Aufführungen: 25. und 27. Januar, 4., 8., 12. und 16. Februar, 18. und 25. März