Als siebenjähriges Wunderkind hatte er begonnen zu komponieren und auf dem Klavier öffentlich zu konzertieren. Professor für Klavier wurde er in Helsinki, Moskau, Boston, bevor er 1894 endgültig nach Berlin zog, wo er später auch Komposition unterrichtete. In seiner 1906 verfaßten Schrift „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ erwies sich Busoni (1866-1924) als echter Visionär. Er träumte von einem „kaleidoskopischen Durcheinander“ zwölftöniger Strukturen, von Drittel- und Sechsteltönen, ja sogar von elektronischer Musik, war schwer begeistert vom elektromechanischem Dynamophon, mit den synthetische Töne elektrisch hergestellt werden konnten, galt damit unter Kollegen als gefährlicher „Futurist“.
Jedenfalls hat Busoni mit dieser Schrift mehr Einfluß auf die Musik des 20. Jahrhundert ausgeübt als mit seinem Klavierkonzert von 1904, in welchem alle diese Überlegungen noch keine Rolle spielen. Erstaunlich, daß dieser Komponist, der sich biografisch ja vom Klavier her entwickelt hat, keine Sonate für sein Instrument geschrieben hat, dafür aber Sonatinen, Bearbeitungen (Bach, Mozart Volksweisen), Tänze, Präludien. Albumblätter u.a.. Sein einziges, umfangreiches Klavierkonzert, eines der längsten der ganzen Musikgeschichte, wird wegen seines Umfangs und seiner technischen Schwierigkeiten nur selten aufgeführt. Eigentlich handelt es ich um eine fünfsätzige Sinfonie für riesiges Orchester, Männerchor und obligates Klavier, also um eine einzigartige Kombination aus Solokonzert und Chorsinfonie. Der Chor sollte nach den Vorstellungen des Komponisten im Saal nicht sichtbar nur hörbar sein. Es handelte sich also um ein Ausnahmekonzert, welches dankenswerterweise vom Klavierfestival Ruhr mit Hilfe der Jackstädt-Stiftung in Wuppertal ermöglicht worden ist, allerdings nur mit hinter dem Orchester auf dem Podium sichtbaren Männerchor. Patrick Hahn hielt es für unmöglich, der Anweisung des Komponisten zu folgen, versicherte, das ginge nur mit 200 „Wagnerschen Brüllaffen“ im Foyer bei offenen Türen und verwies im Vorgespräch darauf, daß die Musik ihre eigene Faszination entfalte, wenn 1000 schwer zu differenzierend Kleinigkeiten filigran ineinander verwoben werden.
Dann begann der erste Satz mit spätromantischem schwelgendem Orchesterklang. Minutenlang dauerte die Vorstellung des 1. Themas, bevor das Klavier mit vollgriffigen Tschaikowsky-Kaskaden loslegte. Von einer neuen Ästhetik der Tonkunst, über die Busoni 1906 geschrieben, ist hier noch keine Rede. Hier hört man eher Anmutungen auch an Smetana oder andere, während der Pianist kräftig wie übergriffig die gesamte Klaviatur rauf und runter parallel oder auch gegenläufig bearbeitet. Das Klavier läuft oft parallel zu Orchesterstimmen. Das eindrucksvolle Oboensolo läßt aufhören. Nach langem Ausatmen zum Schluß bricht das „Pezzo giocoso“, das Scherzo des 2. Satzes aus: musikantisch, harlekinartig, wahnsinnig schnell, strukturiert durch markante abgerissene Klavierakkorde, hektisches rhythmisches Flirren des Orchesters, wie des brillanten Klaviers. Die Klangfarbe wechselt, wenn das Adagio des 3. Satz mit tiefem Bass anhebt, bevor darüber die Streicher, dann die Oboen ihre langen Melodien ausbreiten. Beim Klaviereinsatz steht die Virtuosität hier vor allem der linken Hand hinter den komplexen, spätromantisch bombastischen Orchesterklängen kaum zurück. Von einer bevorstehenden Atonalität ist hier noch nichts zu bemerken. Immer wieder perlt das Klavier in den oft einfachen Orchestersatz hinein oder liefert mit hämmernden Passagen Füllmaterial dazu. Das erinnert stark an Franz Liszt. Claude Debussy schrieb dazu: „Eine sumpfige Musik, bei der die schlimmsten Fehler von Richard Strauss (1864-1949) dadurch verschlimmert werden, daß sie von jemandem, gemacht werden, der keine von dessen Qualitäten hat.“ Donnerwetter! Die Kraft des Pianisten, seine Konzentration, sein Durchhaltevermögen waren jedenfalls frappierend. Es gibt nur wenige Pianisten, die sich dieses Konzert antun. Marc-André Hamelin spielt es immer wieder, seitdem er es 1983 für sich entdeckt hat.
Mitreißend bricht das „all italiana“, der Sturm des 4. Satzes aus. Hier wird Zukunftsmusik hörbar (die Lokomotive Arthur Honeggers (Pacific 23) entstand zwar erst 1923. Aber Paul Dukas hatte seinen „Zauberlehrling“ schon 1897 komponiert. Schon bei der Uraufführung des Klavierkonzerts war dem Komponisten Epigonentum vorgeworfen worden. Gassenhauer, italienische Volkslieder sausen wie Wirbelwinde durch den Saal. Beglückende Pianissimi fehlen in der ganzen Sinfonie. Hektisches rhythmisches Flirren des Orchesters mischt sich mit brillantem Klavier, welches zuletzt gar von der Pauke erschlagen wird. Die sich anschließende Kadenz, einmal von kurzem orchestralen Intermezzo unterbrochen, bietet als Tummelfeld für Tastenlöwen komplexe Variationen virtuoser Vollgriffigkeit, für die weniger versierte Pianisten sicher mehr als 10 Finger benötigten. Marc-André Hamelin ist „ein Künstler von nahezu übermenschlicher technischer Brillanz“ (New York Times), was das Publikum in Wuppertal nach diesem Abend gerne bestätigen kann.
Im letzten Satz führt aber dann fast immer das Orchester, hat das Klavier weniger zu tun, wird die Aufmerksamkeit auf den Männerchor der Chorakademie Dortmund gelenkt, der sich ausdrucksstark und sauber in den symphonischen Klang einfügt, aber bezüglich des Textes nicht zu verstehen war. Leider war der Text auf dem dürftigen Programmfaltblatt nicht abgedruckt und man erfuhr auch nichts über den dänischen romantischen Dichter Adam Oehlenschläger (1779-1850), von dem u.a. der Text der dänischen Nationalhymne stammt und der viele seine Werke auch auf Deutsch publiziert hat. Aus seinem Märchendrama „Aladdin“ stammt der Hymnus für Allah, dem er huldigt wegen seiner ewigen Kraft, die offensichtlich in die Hände des Pianisten wie der Pauker gefahren war, die erst oben hinter dem Orchester umherwandern mußten, bevor sie unisono im ff losschlagen konnten. Alle im Saal fühlten sich da wohl Allah nahe. Mit einer gewaltigen letzten Stretta zwischen Klavier und Orchester ging das Werk nach gut 70 Minuten zu Ende.
Es im 100. Todesjahr des einflußreichen Ferruccio Busoni aufzuführen, war höchst verdienstvoll und die Leistung des Pianisten wie des Orchesters unter der Leitung des souveränen Patrick Hahn wirklich beeindruckend. Das Publikum jedenfalls sprang auf, bejubelte mit stürmischem Applaus, Bravi und Pfiffen diese Aufführung, wofür sich Marc-André Hamelin mit zwei Zugaben bedankte. Seine Energie reiche noch, kündigte er, an für eine zauberhafte, frühe Komposition von ihm selbst („Spieluhr“) und ein Prelude von Claude Debussy.
Johannes Vesper, 20. Juni 2024
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