Bremerhaven: „Hänsel und Gretel“, Engelbert Humperdinck

Zur Ouvertüre von Engelbert Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel schlurft eine alte Frau vor dem Vorhang über die Bühne. Es ist eine Nachbarin der Familie von Hänsel und Gretel, die in einer Dachkammer über ihnen wohnt. Hänsel und Gretel rempeln sie an, sodass die Tasche der Frau zu Boden fällt. Die Kinder bereiten quirlig und lautstark den Geburtstag der Mutter vor. „Häpy Börsday“ haben sie auf die Girlande geschrieben. Die alte Frau stampft mit ihrem Gehstock auf den Fußboden, weil sie sich gestört fühlt. Und auch die Mutter ist verärgert über das Chaos, das die Kinder in der Wohnung angerichtet haben. Die werden hier von den Eltern nicht in den Wald geschickt, sondern müssen ins Bett. Dort flüchten sie sich in eine Traum- und Phantasiewelt.

Boshana Milkov (Hänsel), Victoria Kunze (Gretel) (c) Heiko Sandelmann

Regisseurin Marie-Christine Lüling wollte die Geschichte aus der Sicht von Kindern erzählen. Das ist ihr gelungen. Ihre Inszenierung ist durchgängig sehr märchenhaft. Bei ihr wirkt auch der Wald nicht bedrohlich. Es bleibt eine heile Welt, in der freundliche Augen vom Himmel blicken. Dieser Wald aus Farnen und Blättern wächst vom Himmel herab. Riesige Erdbeeren wachsen dort. Es ist ein stimmungsvolles Bild mit schönen Lichteffekten und auch ein paar Nebelschwaden. Judith Philipp hat bei ihren Entwürfen für die Bühne und auch für die Kostüme viel Phantasie einfließen lassen. Das Sandmännchen etwa ist ein merkwürdiges, moppeliges Mischwesen, eine Art „Hamsterhasenpferd“, das Taumännchen hat insektenhafte Züge. Die vierzehn Engel, die eigentlich den Schlaf von Hänsel und Gretel bewachen, sind hier durch sogenannte Waldgeister ersetzt. Da versammeln sich ein Rabe, ein Uhu, eine Katze ein possierlicher Dinosaurier und andere um die Kinder herum. Es sind genau die Figuren, die schon im Kinderzimmer von Hänsel und Gretel die Regale bevölkert haben. Die Entwürfe für diese Figuren sind im Vorfeld bei einem Workshop mit Viertklässlern entstanden.

Das Hexenhaus mit riesigen Lollis, Donuts, Kaugummiblasen und Schaum-Erdbeeren ist ein Schlaraffenland in Schweinchenrosa. Die Hexe, die fatale Ähnlichkeit mit der alten Frau hat, schwebt vom Himmel herab und verwandelt sich dann in einen kahlköpfigen Mephisto. Der schwingt eine große Zuckerstange als Zauberstab. Wenn am Ende das Hexenhaus nach einer Explosion gedreht wird, erblickt man wieder die Stube der alten Frau. Auch für die gibt es ein gutes Ende. Sie wird von der gesamten Familie besucht. Der Albtraum, der eigentlich keiner war, ist zu Ende. Insgesamt ist diese Produktion von Hänsel und Gretel sehr familienfreundlich. Groß und Klein können daran ihre Freude haben.

Freude bereitete auch die musikalische Seite. Dirigent Davide Perniceni und das Philharmonische Orchester Bremerhaven musizieren mit opulentem und ergiebigem Klang. Dass die Musik durchaus in der Nähe zu Wagner steht, wird immer wieder deutlich. Dennoch nimmt er Rücksicht auf die Sänger und deckt sie nicht mit zu großer Lautstärke zu. Die volksliedhaften Teile werden mit erfrischender Leichtigkeit präsentiert, bei der Ouvertüre und bei der Engel-Pantomime darf geschwelgt werden.

(c) Heiko Sandelmann

Mit Boshana Milkov und Victoria Kunze stehen ideale Sängerinnen als Hänsel und Gretel auf der Bühne. Ihr Spiel ist so quicklebendig und auch so frech, dass sie manchmal an Max und Moritz erinnern. Gesanglich lassen sie keine Wünsche offen. Beim Abendsegen verbreiten sie perfekt abgestimmten Wohllaut.  Der Vater Peter ist bei Marcin Hutek und seinem eher hellen Bariton gut aufgehoben Mit „Eine Hex‘ steinalt haust tief im Wald“ gelingt ihm eine suggestive Hexenbeschwörung. Die Stimme von Eva Maria Summerer ist nicht immer frei von kleinen Schärfen. Als Mutter Gertrud überzeugt sie trotzdem. Ihre Textverständlichkeit könnte noch verbessert werden. Andrew Irwin verleiht der alten Frau bzw. der Knusperhexe viel Bühnenpersönlichkeit. Seinem Charaktertenor wünscht man eine Spur mehr Volumen. Marlene Mesa und Annemarie Pfahler machen ihre Sache als Sandmännchen und Taumännchen ausgezeichnet. Ein Sonderlob gebührt dem von Mario El Fakih Hernández einstudierten Kinderchor. Dessen eifriger Auftritt rührt nicht nur die teilweise anwesenden Eltern.

Wolfgang Denker, 6. November 2023


Hänsel und Gretel
Engelbert Humperdinck

Stadttheater Bremerhaven

Besuchte Premiere am 4. November 2023

Inszenierung: Marie-Christine Lüling
Ausstattung: Judith Philipp
Musikalische Leitung: Davide Perniceni
Philharmonisches Orchester Bremerhaven

Weitere Vorstellungen: 11., 23. November, 8., 16. Dezember, 2023, 6., 14. Januar 2024