Leider ist Purcells einzige richtige Oper etwas kurz geraten (mit knapp einer Stunde Spieldauer) – und gerade deshalb wohl ein eher seltener Gast auf den Opernbühnen. Dabei hat die Musik großartige Qualitäten und ist mit ihren aufs Notwendigste komprimierten Szenen überaus stringent vorwärtsdrängend. Aber eben, als Abendfüller taugt sie nicht und Kombinationen à la Cavalleria Pagliacci wären zwar vorstellbar, aber nicht ganz einfach zu finden (auf Anhieb würde mir Gnecchis Cassandra einfallen).
Die Bühnen Bern haben nun eine insgesamt recht überzeugende Lösung des Problems präsentiert, indem sie aus dem Werk einen Tanz- und Opernabend gestalteten. Die Verantwortliche dafür ist Ina Christel Johannessen, welche das Konzept entworfen und die Inszenierung und die Choreografie zusammen mit den Tänzern des Bern Ballett gestaltet hat. Das Ergebnis kann sich sehen und hören lassen!
Yngvar Julin hat dazu zwei drehbare Bühnenelemente entworfen, welche Lehmbauten einer orientalischen Stadt erahnen lassen: Auf der Vorderseite Säulengänge, auf der Rückseite sich nach oben verengenden, gerundeten Treppenstufen, zwischen den beiden symmetrischen Elementen ein Durchgang für Auftritte und Abgänge. Die Kostüme von Bregje van Balen sind vorwiegend in gedeckten Pastelltönen gehalten, teils antik und ethnisch historisierend, teils durchaus mit Anklängen an zeitgenössische Kleidung. Begonnen wird mit einer ca. 15 Minuten dauernden Tanzszene, wilde Ethno-Techno-Rhythmen inspirieren die barfuß tanzenden Tänzer zu wilden, fast Derwisch artigen Tänzen in verzückter Trance im Bühnennebel. Vorerst tanzen alle für sich allein, selbstbezogen. Wenn dann in der Musik arabisch singende Stimmen auftauchen und voller Melancholie von Herz-Schmerz berichten, finden sich Paare, auch Dreierkonstellationen werden sichtbar. Hebefiguren gibt es praktisch nicht, der Tanz bleibt sehr erdverbunden.
Ein Kinderchor bittet Königin Dido zum Einsetzen der Barockmusik um Frieden. Nun kommt es zur eigentlichen Oper, welche die unglückliche Liebe der Königin Dido in Karthago zum trojanischen Flüchtling Aeneas zum Thema hat. Aufhorchen lässt das geschmeidige, freudige Musizieren des Berner Symphonie Orchesters, welches unter der sehr schön gestaltenden Leitung von Artem Lonhinov Purcells wunderbare Partitur voll einfühlsamer Wärme erstrahlen lässt und auch durchaus dramatische Akzente zu setzen weiss. Es ist tatsächlich eine Musik, die man sehr gerne hört. Der aparte Klang des erhöht positionierten Orchesters setzt sich aus Streichern, Cembalo (Peter Solomon), Laute (Sam Chapman), Theorbe/Barockgitarre (Priska Weibel) und wenig Schlagzeug zusammen. In der eingefügten Violinsonate von Tartini (zur Ballett-Pantomime des Jägers Actaeon, welcher die nackte Göttin Diana beim Baden beobachtet hatte und als Strafe von seinen eigenen Hunden zerfleischt wurde) spielt der Dirigent Artem Lonhinov selbst die Violine und Peter Solomon begleitet ihn am Cembalo – berückend schön! Die Ballett-Pantomime hingegen ist etwas gewöhnungsbedürftig: Man weiss nicht so recht, ob sie als komödiantisches Intermezzo oder als (schlechte) Parodie auf die antiken Geschichten gemeint ist. Von zwei Tänzern des Balletts werden alle Namen von Actaeons Hunden heruntergebetet, mit Verlaub, es ist nicht lustig. Der Gruppentanz und das Solo der Göttin Diana (Marieke Monquil) mit dem goldenen Bogen hingegen sind mit reichhaltigem Bewegungsvokabular choreographiert. Auch die tödlichen Verletzungen des Actaeon stellt der Tänzer Indar Carmona Viñas mit virtuoser Körperlichkeit (gewagte Hechtsprünge und Rollen) dar.
Evgenia Asanova singt eine herausragende Dido; ihr biegsamer, warmer Mezzosopran vermag mit bestechender Eindringlichkeit die Gefühle von Liebe, Zerrissenheit und Trauer auszudrücken. Ihre Finalarie zum Dahinschmelzen schön. Patricia Westley begeistert mit ihrem hell timbrierten, agilen Sopran, der so wunderbar mit Evgenia Asanovas Mezzo verschmilzt. Es ist eine pure Freude, den beiden zu lauschen. Als Aeneas setzt Jonathan McGovern wunderbare baritonale Akzente. Leider wurde ihm als Kostüm eine blaue, Pyjama artige Dreiviertelhose verpasst (komisch, auf den Fotos im Programmheft ist diese Hose noch lang), das wohl hässlichste, unkleidsame Kleidungsstück, das je für Männer entworfen wurde. Sollte der trojanische Held damit lächerlich gemacht werden? Braucht es nicht, denn seine Zerrissenheit zwischen falsch verstandenem Pflichtgefühl (bezüglich der Gebote Jupiters) und dem individuellen Recht, dem Streben nach Liebe und Glück, vermag der Sänger eindringlich zu gestalten.
In den kleineren Partien glänzt vor allem der Countertenor Elmar Hauser als Zauberin und Geist Merkurs mit makelloser Stimmführung. Maria Giuliana Seguine singt die Erste Hexe und Alexandra Lewis die Zweite Hexe, beide mit fantastisch passendem, dramatisch-spöttischem, lebhaftem Klang. Schade, dass gegen das Ende hin oftmals Parallelhandlungen auf der Bühne stattfinden. Gerade bei den ergreifenden Abschiedsszenen zwischen Dido und Aeneas wird neben dem Protagonisten-Paar und dahinter getanzt. In solchen Momenten will man nicht Multitasking fähig sein. Da will ich mich auf die Gefühle der beiden Liebenden einlassen, mit ihnen leiden. Da brauche ich keine verdoppelnden Verrenkungen im Hintergrund oder neben dem Paar.
Das Ende kommt wie ein Requiem daher, der Chor der Bühnen Bern (einstudiert von Zsolt Czetner) singt With drooping wings ye cupids come, and scatter roses on her tomb, Didos Leiche wird niedergelegt, andere Opfer legen sich dazu. Ein ergreifendes Ende für alle vergeblich Liebenden. Im Hintergrund färbt sich der Himmel blutrot (Christian Aufderstroth zeichnet für das stimmungsvolle Lichtdesign verantwortlich), bevor das Licht erlischt und man einen Augenblick ergriffen im Dunkel verhallt. Dann brandet der begeisterte und verdiente Applaus des Premierenpublikums für das gesamte Ensemble auf.
Kaspar Sannemann 15. November 2024
Dido und Aenaes
Ballett / Oper
Henry Purcell
Bühnen Bern
10. November 2024
Choreografin: Ina Christel Johannessen
Dirigat: Artem Lonhinov
Berner Symphonie Orchesters