Bern: „Siegfried“, Richard Wagner

© Rob Lewis

Die „Ring-Schmiede“ am Berner Stadttheater erreichte nun das Halbfinale und hatte heute mit „Siegfried“ von Richard Wagner Premiere. Sprach man in meiner Jugend dereinst zur gewonnenen Fußball-WM über „Das Wunder von Bern“, darf ich heute im reifen Alter und längst das Verfalldatum überschritten, zur musikalischen grandiosen Siegfried-Premiere erneut den Slogan „Das Wunder von Bern“ verwenden, doch davon später.

Um es sogleich vorwegzusagen, heute erlebte ich den Siegfried in einer Art Revue-Fassung, als Rockoper oder Musical? Nachdem sich meine erste Empörungswoge verflüchtigte „sann ich nach“ während der folgenden halbschlaflosen Nacht. Die Grundidee der Regie Ewelina Marciniak war gar nicht so übel, hätte man sie in einer neukomponierten Fassung (ein evtl. Anreiz für zeitgenössische Musical-Tonsetzer?) würde sie jüngere Generationen der Theaterbesucher sicherlich begeistern, doch schlugen jene Überlegungen und Ausführungen wieder Musik- und Wagner-Textur fehl. Eine komplette Überfrachtung der Bühne mit zwar ausgezeichneten Tanztheater-Choreografien (Mikolaj Karczewski), jeder Menge von Statisten wirkte optisch durchaus reizvoll, erschien dennoch störend und völlig überflüssig.

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Stets waren alle Protagonisten von Scharen umgeben, Momente intimeren Charakters gingen verloren – schade. Gab es doch wunderbare Ansätze auf der Suche nach Liebe oder Zuneigung: Wotan nahm z.B. den verwunderten Enkel liebevoll in den Arm, Mime sehnte sich nach Zuneigung, widerstand in letzter Sekunde der Verführung eines Jünglings vor der Neidhöhle, sich seiner „Lebensaufgabe“ erinnernd. Auch Wotan sehnte sich nach Erdas erneuter Gunst, doch die Dame entschwand beleidigt. Auch die Erweckung der schlafenden Maid stand unter Aufsicht, ebenso das sich Finden des Paares. Verschenkte Szenerien und wie Mime bemerkte Müh ´ohne Zweck!

Die Bühne dekorierte Mirek Kaczmarek, eine Bio-Küche im Grünen für Mime, Linde und Neidhöhle ein grünes gezacktes Gebilde gleich einem Endivien-Kopf, welcher sich teilte und Siegfried entschwand in dessen dunkler Mitte um Ring und Tarn Helm zu erwerben. Eine muntere Gesellschaft feierte Party, man kiffte und trank. Erdas Begegnung fand in greller Beleuchtung statt, der Brünnhilden-Felsen blieb vornehmlich im Dunkeln mit von der Decke herabhängenden Gebilden bestückt.

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Die schrillen Kostüme von Ballett und Statisterie kreierte Julia Kornacka, Siegfried in Jeans, Karohemd, Langhaar mit Pferdeschwanz und Brille, Wotan in lässiger Flatterhose mit Guru-Hemd und Kettenbehang, Fafner erschien im schrillen Outfit als kopierte Soul-Legende, Brünnhilde elegant im schwarzen Hosenanzug mit weißem Shirt, Siegfried zur „Brautwerbung“ schnieke im gleichen Dress, das Haar offen. Erda halbnackt im Bettlaken gehüllt, in entzückendem Wabenkostüm bewegte sich der muntere Waldvogel und trieb mit Siegfried seine Späße.

Nun jedoch zum Höhepunkt des Abends und dem eigentlichen „Wunder von Bern. Ich muss gestehen, selten durfte ich ein so in sich geschlossen, kompetentes, relativ junges vokal wie optisch hervorragendes Ensemble von unglaublich hohem Niveau ohne Fehl und Tadel erleben. Meine inzwischen elektronisch gradierten Lauscher vernahmen wahrlich nur solistische Euphonien. Ohne die vorzüglichen Leistungen aller zu schmälern, beginne ich mit dem Titelhelden.

Jonathan Stoughton, Wagner-Tenor am heimischen Nationaltheater Mannheim debütierte nach erfolgreichem Götterdämmerungs-Recken vor zwei Jahren nun als Jung-Siegfried. Nach bisher glanzvollen Interpretationen von Erik, Parsifal, Siegmund, dem Ring-Finale etc. krönte meiner Meinung nach der großartige englische Heldentenor seine Dato-Karriere mit diesem hinreißenden Siegfried-Debüt. Ganz im Sinne des Komponisten verlieh Jonathan Stoughton dem Titelhelden alle jene gewünschten und erstrebenswerten Attribute: dem naiven Knaben schien der attraktive Naturbursche entwachsen, spielte unbekümmert den sympathischen Lümmel fernab guter Manieren. Zur sportlichen Physis beeindruckte zudem Stoughton in bewundernswerter Vokalise: zu lyrischem Beginn und dennoch kräftigen dunklen Couleurs begann der intelligente Sänger seinen Vortrag, schenkte in immenser Steigerung den Schmiedeliedern  intensiv-markante Tongebungen und gehaltvollen Höhenglanz, träumte in herrlichem Legato von der Mutter, intonierte in feinen Piani Selige Öde auf sonniger Höh´, um schließlich erneut sein prächtiges, herrlich timbriertes, farbenreiches Tenormaterial in allen Facetten erblühen zu lassen um der ausgeruhten Brünnhilde vokal glanzvoll Paroli zu bieten.

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Zwei Damen waren bereits im Vorgespräch, zum Slogan alle guten Dinge sind drei stellte sich Stéphanie Müther als imposante Brünnhilde vor. Welche glückliche Fügung, zur optisch vorteilhaften Erscheinung bereicherte Frau Müther das vortreffliche Ensemble mit einer vokal attraktiven Spinto-Brünnhilde. Mit lyrisch-warmen Soprantönen zu Heil dir Sonne, Heil dir Licht erwachte die Maid, ließ herrlichen Silberstrahl, mühelos die hohen C´s bei Ewig war ich, Ewig bin ich vernehmen, edel umflort erklang das Soprantimbre in allen Lagen ihrer bestens fokussierten Stimme um sich schließlich im alles überstrahlenden Jubel Ton mit dem Partner im unendlichen Nirwana des Eros-Finales zu vergehen.

Patricia Westley zwitscherte unbekümmert mit herrlichen klaren schönstimmigen Obertönen das liebreizende Waldvögelchen. Herrlich strömend in dunklen Alt Tönen, in Kombination betörender Melange und klangvollem Oberregister verschenkte die junge Freya Apffelstaedt eine Fülle vokalen Wohllauts und erinnerte den ruhelosen Wotan zu dunkelsamtigen Tönen, dass das göttliche Endspiel nun endgültig verloren.

Erfreulich war für mich die Wiederbegegnung mit Claudio Otelli, meinem einstigen jugendlichen Walküren-Wotan, nun mutierte der charismatische Bassbariton zum resignierenden Wanderer. In nach wie vor bester Diktion brachte der Sänger in belkantischer Manier sein prachtvolles Material zum Erblühen und ließ aller Regiemängel zum Trotz den stolzen Übergott von Format erkennen.

Schöne Menschen kann nichts entstellen lautet ein Spruch. Von wegen Mime der Zwerg, zu gleicher Statur wie alle Kollegen gestaltete Thomas Ebenstein Siegfrieds Ziehvater fernab aller Klischees. Ohne larmoyante Töne manövrierte der spielfreudige Sänger seine farbenreiche Tenorstimme in jene aussagekräftigen Charakterregionen und schenkte der Partie zudem gewinnend-sympathische Züge.

© Rob Lewis

Mit Tiefgang, gefährlicher Resonanz, schönstimmig wandlungsfähigem Bassbariton imponierte Zóltan Nagy als auftrumpfender intensiver Alberich.

Sonor, dröhnend erklang Fafners Stimme aus dem Verstärker, subtil prächtig erhob sich dagegen „naturell“ das nachtschwarze klangvolle Basspotenzial von Mattheus Franca und verlieh dem Fafner durchaus persönliche menschliche Sympathien.

Als sensibler Sängerbegleiter erwies sich Nicholas Carter am Pult des prächtig aufspielenden Berner Symphonieorchesters und entwickelte von den Sängerleistungen getrennt, eigenständige  orchestral-solistisch mystische Klangwelten von besonderem Reiz. Carter gelang auf atemberaubende Weise eine adäquate Orchestrierung der Siegfried-Partitur, inspirierte den in allen Instrumentationen bestens disponierten Klangkörper zu qualitativen Höchstleistungen. Vorzüglich kontrastierte der versierte Dirigent die motivierten Momente des zwerg´schen Gezeters, Wotans Rätselszene, dessen kammermusikalisch untermalte Resignation, die schier lustvollen Kabalen des ersten wie zweiten Aufzugs. In faktiösen Emotionen verstand es Wagner die Themen orchestral zu optimieren und ganz besonders das Entree des dritten Aufzugs auf unvergleichliche Weise musikalisch zu bündeln. Carter und seinem Instrumentarium gelangen die feinen Streicher-Ziselierungen überirdisch bis zum konträren alles überwältigenden Finale. Von wenigen eruptiven Forte-Passagen jedoch getragen von bester orchestraler Formation, glänzte der Berner Klangkörper in höchst differenzierter Präzision und ließ die Zuhörer in balsamisch-narkotischen Klangwogen schwelgen.

© Rob Lewis

Überschäumende lange Begeisterung, prasselnder Applaus, lautstarke Bravorufe für die musikalische Komponente, weder Pro noch Contra für das Produktionsteam.

Bereits während der zweiten Pause dachte ich so bei mir: musikalisch würden sich weitere Besuche durchaus lohnen, entgegen der entfernten Anreise, doch der Szene wegen lasse ich´s beim einmaligen Event.

Gerhard Hoffmann, 17. April 2024

Besonderen Dank an unsere Freunde und Kooperationspartner vom MERKER – online


Siegfried
Richard Wagner

Stadttheater Bern

Premiere: 14. April 2024

Regie: Ewelina Marciniak
Dirigat: Nicholas Carter
Berner Symphonieorchester

Trailer