Bern: „La Cage aux Folles“, Harvey Fierstein / Jerry Herman

Wie es der Zufall so will: Zwei Tage vor der Premiere in Bern hat das französische Parlament endlich beschlossen, die diskriminierten Homosexuellen in Frankreich zu entschädigen, welche – wegen eines Gesetzes, das die Vichy-Regierung 1942 in Kraft gesetzt hatte – unter Strafverfolgung und Gefängnisaufenthalten gelitten hatten. Das damalige Gesetz stellte nämlich Homosexualität unter das Strafrecht und wurde erst 1982 von der Regierung Mitterands aufgehoben (!). Und genau an diesem Punkt der ungerechten Strafverfolgung diverser Liebe setzen der Regisseur Axel Ranisch und sein Inszenierungsteam in der Berner Produktion an: Während des kurzen Orchestervorspiels flimmern kolorierte Postkartenidyllen von St. Tropez auf der Leinwand vorbei, die dann schnell von Postkarten aus dem Gefängnis abgelöst werden und auf die Strafverfolgung von „Sodomiten“ verweisen. Und so begrüßt Tobias Bonn als Nachtklubbesitzer Georges das Publikum dann in der Uniform eines Gefängnisdirektors, präsentiert seine Show in den ehemaligen Gefängnisräumen. Das Ensemble unter Ranischs Leitung präsentiert aber nicht einfach einen glamourösen, tuntigen Schwank, sondern leuchtet den Plot mit bewegendem, berührendem, ja geradezu sensationellem Tiefgang aus.

© Rob Lewis

Dieses Ausleuchten beginnt mit den „Cagelles“: Das sind nicht einfach grell geschminkte Transvestiten, sondern Menschen mit einer Geschichte. Reife Männer, die wegen ihrer Art zu leben und zu lieben zum Teil im Gefängnis gesessen hatten und nun ihre Freiheit auf der Bühne des CAGE AUX FOLLES so leben, wie es ihren Bedürfnissen und ihrem Wollen entsprich. Da gibt es den Mann, der sich gerne als Ordensschwester Angélique kleidet (Arthur Büscher), Chantal, das Singvögelchen, dessen Belcanto-Karriere als Koloratursänger schief gegangen ist, der aber eine Lucia-Di-Lammermoor-Parodie nicht lassen kann (Denis Lakey), die Domina Hanna, die als Kind einer Prostituierten in Hamburg aufgewachsen ist (Angela H. Fischer), Mercedes, die sich als grosse, zickige Tragödin sieht und wie Charlotte von Mahlsdorf gekleidet ist (Matthias Schuppli), das rätselhafte Wesen Phädra, das vom Straßen Strich kommt und nun im Ganzkörper-Gummianzug wie eine Schlange auf der Bühne agiert (Sara Hidalgo), das neckische Pferdemädchen Nikki (Arne David) und Clo-Clo, der gleich Marlene am liebsten im Glitzerrock und mit platinblonder Perücke und Zylinder auftritt (Andreas Goebel). Als Mädchen für alles agiert mit fantastischer Bühnenpräsenz Tom Zahner als Stage Manager Francis, dem aufgrund diverser Knochenbrüche und Verstauchungen Bühnenauftritte leider nicht mehr so möglich sind; trotzdem hilft er immer aus, wenn Not am Mann ist. Diese individuellen und unglaublich scharf beobachteten und umgesetzten Charakterzeichnungen setzen sich natürlich in den Hauptpartien fort: Urkomisch der farbige Butler im Hauhalt von Georges und Albin, Jacob, dargestellt von Laurent N’Diaye.

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Er fühlt sich als Zofe auf dem Sprung zur Bühnenkarriere, die ihm jedoch versagt bleibt – bis am Ende, wo er doch noch seinen Auftritt bekommt und den gründlich versemmelt. Den erzkonservativen, durch und durch homophoben Politiker Edouard Dindon spielt Jan Henning Kraus: Seinen offenen Mund, den er nicht mehr zukriegt, wenn die vermeintliche Mutter seines zukünftigen Schwiegersohns die Perücke auszieht und sich als Mann zu erkennen gibt, muss man gesehen haben. Urkomisch auch, wenn er im Feder-Fummel mit einem in den Regenbogenfarben gehaltenen Top und in Highheels die Showtreppe hinunterstolpert. Seine Gattin Marie Dindon wird von Sarah Heckendorn zu einer tragisch-komischen Figur gemacht: Erst bieder im hochgeschlossenen schwarzen Kostüm, dann, nachdem sie die Chance sieht, sich gegen ihren Mann aufzulehnen (mit genügend Schampus intus) tanzt sie enthemmt auf den Tischen. Herrlich. Einen ganz grossen Coup landet Axel Ranisch mit der Zeichnung ihrer Tochter Anne, die sich mit Georges Sohn Jean-Michel vermählen will: Anne ist kein ausgehungertes Supermodel, sondern ein bodypositives Pummelchen, frisch und unbekümmert – und einfach verliebt. Beatrice Reece füllt die Rolle herzerwärmend aus. Hier zeigt Ranisch, dass die Liebe eben nicht auf Äußerlichkeiten beschränkt sein muss, sondern tief aus dem Empfinden kommen kann und soll und deshalb nicht darüber von Außenstehenden geurteilt werden darf. Der gertenschlanke Schnuckel Jean-Michel vergöttert seine Anne mit all ihren Rundungen. Wolfram Föppl spielt ihn mit großer Vielschichtigkeit: Wie er dann seine „Ziehmutter“ Albin (Zaza) um Verzeihung bittet, geht zu echt Herzen. Zudem entpuppt er sich auch als versierter Sänger, der den Hit Mit Anne in meinem Arm oder die Reprise von Sieh mal dorthin mit berührender Tongebung gestaltet.

Sie sind für mich eines der ergreifendsten Liebespaare der Theatergeschichte. Seit dreißig Jahren ein Paar, die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen – und doch ist die Liebe zwischen den beiden eben unverrückbar zu spüren. Tobias Bonn gibt einen durch und durch souveränen Georges, feinfühlig um die Macken Albins wissend, vorsichtig mit dessen Empfindlichkeiten umgehend, bedacht darauf, ihn nicht zu verletzen, obwohl er ihn zuerst vom Kennenlernen der Dindons und der bevorstehenden Hochzeit ausschließen will. Das Sieh mal dorthin, mit dem er seinem Sohn Jean-Michel die Augen öffnet und ihm zeigt, dass Albin den Ausschluss nicht verdient hat, geht unter die Haut.

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Christoph Marti als Albin/Zaza ist ebenso überragend in seiner Darstellung dieses nicht ganz einfachen Charakters, der gerne mal theatralisch übertreibend seine Gefühle extrovertiert zur Schau stellt. Und doch spürt man stets, dass da ein Mensch mit grossem Herzen ist, dass unter der Schminke und den glamourösen Kostümen eine verletzliche, empfindsame Seele haust. Seine Showauftritte sind umwerfend choreografiert (verantwortlich für die rasanten und stimmigen Choreografien: Alex Frei), sein Gesang von durchschlagender Kraft, Tiefe und Eindringlichkeit. Unvergessen bleibt sein Zusammenbruch (die schwarz-weiße Fototapete in ihrem Wohnzimmer, auf der er seinen Mann Georges innig küsst, wird weiß übertüncht) sein Schluchzen, wo er realisiert, dass er – obwohl er Jean-Michel während vierundzwanzig Jahren wie eine liebende Mutter großgezogen hat – nun nicht als Teil der Familie akzeptiert und präsentiert werden soll. Es sind solche Momente, welche dem Theater Relevanz verleihen. Daneben gibt es auch viele komische Situationen und Dialoge, in denen man von Herzen lachen und schmunzeln kann. Etwa, wenn Albin lernen soll, sich als Mann wie John Wayne zu bewegen. Christoph Marti macht als Judy Garland und als verkleidete „Mutter“ Jean-Michels hervorragende Figur, versprüht eine Bühnenpräsenz, die in Bann schlägt.

Dem Regisseur Axel Ranisch ist ein vom Anfang im Gefängnis bis zum turbulenten Ende auf der Showtreppe packendes und mitreißendes Theatererlebnis gelungen. Er lässt die geschliffenen, träfen Dialoge mit perfektem Timing sprechen, nutzt die von Falko Herold mit fantastischer Stimmigkeit die Schauplätze verortende Drehbühne mit großartiger inszenatorischer Kunst. Tempo, Witz und Tiefgang reichen sich die Hand. Da werden auch kurz mal die brutalen Ereignisse vor der Stonewall-Bar in New York gezeigt, die zu den jährlich weltweiten Demonstrationen des Christopher Street Day für die Gleichheit der Rechte von LGBTQ Menschen geführt hatten.

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Axel Aust hat die dramaturgisch so wunderbar passenden Kostüme entworfen und Christian Aufderstroth ist für das atmosphärisch überaus stimmige Lichtdesign verantwortlich. Ein großes Lob gebührt auch der Tonregie von Bruno Benedetti: Nichts ist übersteuert, die Dialoge kommen klar und verständlich durch, die Balance zwischen dem mit Schmiss und packenden Rhythmen aufspielenden Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Hans Christoph Bünger (kein Freund von Dorothy … wer in der Aufführung war, versteht die Anspielung) und dem Gesang auf der Bühne ist perfekt.

Berührend ist das Ende: Nachdem Jacqueline (mit fast schon aristokratischer Eleganz im Stil von Line Renaud: Silvia Maria Jung) den im Fummel flüchten wollenden Dindon der Presse zum Fraß vorgeworfen hat, sieht man Albin und Georges in tiefer Umarmung und sich innig küssend im Wohnzimmer stehen. Die Fototapete mit dem Kuss der beiden ist wieder da – nun in Farbe! Fazit: Relevant, unterhaltsam, lustig, traurig, berührend und mit perfektem Schmiss – alles, was Musiktheater ausmacht.

Kaspar Sannemann 12. März 2024


La Cage aux Folles
Libretto von Harvey Fierstein
Musik von Jerry Herman

Bühnen Bern

9. März 2024

Inszenierung: Axel Ranisch
Musikalische Leitung: Hans Christoph Bünger
Berner Symphonieorchester