Premiere am 3.2.2017
Der Übertitel des neu zusammen gestellten Programms aus Ur- und Erstaufführungen sowie einer Wiederaufnahme hat seine Wirkung bereits im Vorfeld getan – so gut wie alle 11 angesetzten Vorstellungen waren bereits im frühen Vorverkaufsstadium überwiegend ausverkauft. Sicher hat der legendäre, unverwüstliche „Bolero“ maßgeblich seinen Anteil daran, aber die Neugier auf in Stuttgart erstmals gezeigte Neuinterpretationen berühmter Stoffe wie auch die erstmals mit Live-Beteiligung des Orchesters arbeitende Halbsolistin des Hauses dürfte eine nicht zu unterschätzende Rolle dabei spielen.
Nicht nur weil ihr Stück am Anfang des Abends steht, auch weil sie sich gegenüber drei arrivierten männlichen Kollegen zu behaupten hatte, gilt das Recht „Ladies first“. Katarzyna Kozielska setzt den drei auf die sinnliche Verführung anspielenden Arbeiten ihrer Kollegen eine Beleuchtung der durch die heutigen medientechnologischen Möglichkeiten besonders ausgeprägten Form der Verführung des Menschen entgegen. Sie denbkt dabei an das zweischneidige Spiel zwischen dem sehnsüchtigen Drang und der Lust auf Neues sowie den damit verbundenen Gefahren der Manipulierbarkeit unseres Handelns und Denkens. „DARK GLOW“ nennt die Polin ihr Stück, in dem im übertragenen Sinn ein dunkles Glühen auf der Bühne herrscht, wenn zuerst ein Lichtstrahl in die finster gehaltene Bühne eindringt und sich dann eine grün schillernde Scheinwerfer-Armatur, die an ein leuchtendes Handy erinnert, bis zum Schluss immer tiefer über die Tänzer herabsenkt. Diese sind in ein Paar, eine Solistin, drei untergeordnete Paare und wechselnde Gruppen unterteilt. Der ehemalige Tänzer Thomas Lempertz hat sie in flott geschnittene Oberteile (die Damen in Kurzarm, die Herren ärmellos), zunächst in verschiedenen zarten Farbtönen, dann in schwarz, gekleidet; für die geschilderte Ausleuchtung sorgte ihr Mann Damiano Pettenella.
Der assoziationsreich den klassischen Spitzentanz aufgreifende und verarbeitende Stil der Choreographin findet hier seine Fortsetzung in der spielerischen Verbindung von Virtuosität und Ausdruckstanz. So überführt sie z.B. auf Spitzen getrippelte Passagen in geneigte Oberkörper-Figuren mit begehrungsvoll ausgestreckten Armen und gespreizten Händen oder lässt eine herkömmliche Hebefigur in gebrochene Positionen kippen. Der Ausdruckswille der abstrakt gehaltenen Kreation ist durchgängig spürbar, doch flacht auch manches durch zu viele Wiederholungen etwas ab. Dieses Manko gründet auch in der gleichnamigen Auftragskomposition von Gabriel Prokofiev, dem Enkel des berühmten Komponisten. Die clusterartige Übereinanderlagerung von flächigen und schlagartigen Passagen, die phasenweise elektronische Züge aufweist, aber doch live gespielt wird, bedient etwas einseitig die drohend düsteren Seiten, während das Lustvolle und der Reiz der Verführbarkeit unterbelichtet bleiben. Exquisit und dabei locker fließend trotz aller Kanten zeigt sich das Hauptpaar Elisa Badenes und Constantine Allen, herb und geschmeidig zugleich Alicia Amatriain, flexibel und präzise die weiteren Paare und das zehnköpfige Damen-Corps. Am Ende verweigert sich die Solistin des Hauptpaares zunächst der Massenverführung, rennt dann aber doch noch in Richtung der bereits erlegenen und ins Dunkel gehüllten Gruppe. Ja, wer mag heutzutage wirklich seine Individualität bewahren?
Im Mittelteil dieses Programms standen zwei mit Spannung erwartete Stuttgarter Erstaufführungen von Ballets Russes-Klassikern in modernerem Gewand. Zuerst „FAUN“ (Uraufführung 2009 in London), den der belgisch-marokkanische Tanzschöpfer Sidi Larbi Cherkaoui aus seinem griechisch mythologischen Ursprung durch Ergänzung der originalen Komposition von Claude Debussy um ferneren Kulturkreisen zuzuordnende Musik von Nitin Sawhney in einen universelleren Kosmos überführt. Genauso konzentriert sich die Begegnung des Paares (im Original dem Faun und einer Nymphe) bei ihm nicht nur auf die sexuellen Entdeckungen zwischen den Geschlechtern, sie macht auch die animalischen Kräfte in der gegenseitigen Erkundung sichtbar. Statt in einem Bambushain vollzieht sich die Begegnung in den Lichtinseln vor einem eingeblendeten Wald-Panorama. Die freizügigen Kostüme (er nur mit Short, sie in einem luftig kurz geschnittenen Kleidchen) unterstützen das körperliche Vexierspiel zwischen Hyo Jung Kang und Pablo von Sternenfels, die dem sehr bodenverhafteten, dabei zu ungemein starken Ausdrucksformen des begehrenden Ertastens findenden Stil eine dichte und unter Hochspannung stehende Atmosphäre abgewinnen und in ihrer Intensität eine einende Harmonie finden – eine würdige Alternative zur zuletzt in Stuttgart gezeigten Ballettstudio-Version von Jerome Robbins. Dazu ein Repertoire-Gewinn und eine Gala-würdige Nummer zugleich.
Leider trifft diese Einschätzung nur auf den für sich betrachtet in Stuttgart gewohnt wissenden Umgang und auch jetzt wieder verblüffend präzis durchgehaltenen Einsatz der Tänzer für den eigenwilligen Stil von Hauschoreograph Marco Goecke zu. Was die zu immer wieder neuen Kombinationen und Verfeinerung findenden Bewegungs-Formen jedoch mit „LE SPECTRE DE LA ROSE“ (Uraufführung 2009 in Monte Carlo) zu tun haben, steht als großes Fragezeichen hinter dem Stück. Da ist zwar die ästhetisch gut getroffene Optik mit den in dunkelrote Samtanzüge gehüllten männlichen Geistern, um die das Kernpaar hier erweitert wurde; da ist auch die aus lauter Rosenblütenblättern bestehende Hose des Hauptgeistes (das im Original träumende Mädchen trägt eine schwarze Hose und ein helles Top), die aus der dunkel gehaltenen Bühne umsomehr heraus leuchten – aber die ganz klar akzentuierte, romantisch tänzerische Musik von Carl Maria von Weber („Aufforderung zum Tanz“ unnötigerweise ergänzt um „Der Beherrscher der Geister“), in der nicht nur der legendäre Sprung durchs Fenster hineinkomponiert ist, findet zu keinem Moment zu einer Übereinstimmung mit der Choreographie. Das ununterbrochene Flattern der Arme und Hände verzittert den Schlaf des Mädchens zu einem Alptraum und geht damit an der Poesie des kurzen Geschehens total vorbei. Eine andere, transzendentere Musikauswahl könnte Abhilfe schaffen. Aber wie gesagt: auch diesmal höchstes Lob für die Tänzer, die feingliedrige Agnes Su, den einmal mehr quecksilbrig flinken Adam Russell-Jones und die sechs Corps-Herren.
Keine Frage, dass der finale „BOLERO“ alles glatt biegen und die zuvor noch irritierte Stimmung auflösen konnte. Maurice Béjarts renommierte Fassung wurde genauso sehnsüchtig wieder erwartet wie der in dieser Saison erstmals auf der heimatlichen Bühne in Erscheinung getretene Erste Solist Friedemann Vogel. Kaum zu glauben, dass er das konditionell fordernde Solo mit zunehmendem Alter noch lockerer und entspannter angeht, wo es für den Körper normalerweise schwieriger werden sollte. Mit unablässigem Fliessen und einer durchgehenden Elastizität gelingt es ihm auf dem engen Raum eines roten Tisches hohe Arabesquen, Sprünge sowie allerlei Windungen des Körpers mit dem Anschwellen und immer neuen Variieren der Melodie zu steigern, während eine vierköpfige Männergruppe und später auch ein großes darum herum gruppiertes Corps den Rhythmus mit ihren Körpern aufgreifen. Da konnte das Stuttgarter Ballett allerdings vor wenigen Jahren an vorderer Front noch stärkere, dem Solisten ebenbürtigere Kaliber aufweisen.
Die Gesamtwirkung und Vogels über alle Maßen emphatische Präsenz reichten aber auch bei dieser Wiederaufnahme aus, um dem Publikum den in der Luft liegenden Aufschrei und anhaltenden Jubel zu entlocken. Aber auch die neuen Programm-Beiträge wurden wohlwollend bis begeistert aufgenommen.
Bilder (c) Stuttgarter Ballett
Udo Klebes 7.2.2017
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