Mailand: „Aida“

Aufführung am 12.10.20 (Premiere am 6.10.)

In COVID-Zeiten wurde die Herbstsaison der Scala mit einer weiteren konzertanten Aufführung fortgesetzt, deren besonderes Interesse darin lag, dass die von Verdi konzipierte Urfassung, die niemals auf die Bühne gelangt war, vorgestellt wurde. Maestro Riccardo Chailly ist für derartige Initiativen bekannt.

Die Vorgeschichte: Im Jahre 2017 konnten die Erben des Komponisten durch jahrelangen behördlichen Druck endlich bewogen werden, dem Staatsarchiv in Parma einen Reisekoffer auszuhändigen, in dem sich verschiedene musikalische Entwürfe und Erstfassungen der Opern des Meisters befanden, darunter auch in Reinschrift die Kopie von „Aida“, wie sie von Verdi ursprünglich gedacht war. Die Form, in der wir das Werk kennen, entstand nämlich erst im August 1871, also jedenfalls vor der Uraufführung in Kairo, während der Beginn des 3. Akts anders gedacht war. Er beginnt mit 108 Takten a cappella im Stil von Pierluigi da Palestrina, also im Ton der Sakralmusik des 16. Jahrhunderts, und setzt sich dann mit Aidas Auftritt in einem längeren Rezitativ fort, dem sofort Amonasros Auftritt folgt. Im August hatte es sich Verdi dann anders überlegt, verzichtete auf Palestrina und schrieb die 151 Takte des im orientalischen Stil gehaltenen Priesterchors und für den Sopran die Nilarie, wobei er an die von ihm verehrte Teresa Stolz, die erste Aida auf italienischem Boden (1872 an der Scala), gedacht haben dürfte.

Verdi hatte testamentarisch verfügt, dass der Inhalt besagten Koffers nach seinem Tod zu vernichten war. Wie so oft in solchen Fällen, ist es nicht dazu gekommen, und nun steht den Musikwissenschaftlern mannigfaltiges Material zum Studium zur Verfügung. Das meine ich wörtlich, denn persönlich halte ich es nicht für richtig, dass dem Publikum eine Fassung vorgestellt wird, die vom Komponisten nicht für die Aufführung gedacht war. (Boshafte dürfen natürlich denken, dass so mancher Sopran vermutlich froh wäre, die Nilarie nicht singen zu müssen). Nun haben wir sie also gehört und mit Vergnügen feststellen können, dass Verdi die Motive des Chors à la Palestrina in seine „Messa da Requiem“ (Introitus) übernommen hat…

Doch nun zur Aufführung, die von Chailly meisterhaft geleitet wurde. Es ist recht lange her, dass ich von diesem Dirigenten eine so inspirierte Wiedergabe gehört habe, die in der Tempowahl so „richtig“ war, das Orchester des Hauses zu einer großartigen Leistung anspornte und dabei den von Bruno Casoni einstudierten Chor perfekt einband, obwohl dieser aus Gründen des Schutzes vor Infektionen an den Bühnenrändern verteilt war, was seine Aufgabe nicht vereinfachte.

Es war begrüßenswert, dass die Sänger miteinander agierten, sodass sich starke szenische Spannung aufbauen konnte, die weder Bühnenbild, noch Kostüme vermissen ließ. Auch die Ballettmusik konnte man ohne weitere Ablenkung genießen. Die Triumphatorin des Abends war Anita Rachvelishvili, die ein richtiges Bühnentier ist und alle Nuancen der Amneris, von schmeichelnd über hasserfüllt bis zur finalen Resignation mit ihrem gewaltigen Mezzo voll auskostete.

Ebenso beeindruckend ihr kunstvolles Singen – als Beispiel sei der schwierige Ansatz von „Ah vieni, vieni amor mio, inebriami“ genannt, der wie aus einem Handbuch der Technik klang. Saioa Hernández in der Titelrolle war gesanglich sicher, doch klang ihre Stimme metallischer als ich sie in Erinnerung hatte. Ihre expressivsten Momente hatte sie im großen Duett mit Radamès, wo sie erfolgreich die gedemütigte Sklavin hervorkehrte und verständlich machte, dass der Geliebte mit ihr fliehen wollte. Ich denke, dass ihr sowohl stimmlich als darstellerisch die frühen Verdiheldinnen wie Abigaille oder Odabella besser liegen. Francesco Meli schien zunächst mit vielen fast im Falsett gesungenen piani in „Celeste Aida“einen verletzlichen Heerführer interpretieren zu wollen. Dazu hätte ich aber am Ende der Arie gerne das von Verdi gewünschte smorzando statt des üblichen Trompetentons gehört. Der Tenor forcierte im Laufe des Abends mehrmals, was seine an sich gute Leistung beeinträchtigte, doch waren auch seine Vorzüge wie deutliches Deklamieren und Sinn für die Phrase zu bewundern. Für den absagenden Luca Salsi stellte sich der Mongole Amartuvshin Enkhbat an der Scala vor und sang den Amonasro mit seinem wunderbar weichen Bariton ohne hörbaren Registerwechsel. Eine markantere Textbehandlung (Verdis „parola scenica“) wird im Laufe der Zeit noch dazukommen.

In weit größerem Ausmaß gilt dies für Jongmin Park, der mit seinem imposanten Bass aus dem Text des Ramphis leider nicht viel machte. In dieser Rolle wäre der an den König „verschwendete“ Roberto Tagliavini besser am Platz gewesen. Andererseits durfte man sich an der Aufwertung der oft von zweiten Bässen gesungenen Rolle erfreuen. Als schönstimmige Priesterin ergänzte einmal mehr Chiara Isotton, während die Leistung des Boten Francesco Pittari eher abfiel.

Die Stimmung im Haus war grandios, und das enthusiastische Publikum feierte mit/trotz MNS-Maske alle Sänger und den Maestro mit seinem Orchester (letzteres und Chailly gleichfalls mit Maske).

Eva Pleus 15.10.20

Bilder: Brescia&Amisano / Teatro alla Scala