Mailand: Ein Strauß von Soloabenden

Teatro alla Scala 20., 21., 22.10.

Angesichts der sich immer schlimmer auftürmenden Schwierigkeiten für Theaterveranstaltungen aus von ignoranten Behörden missverstandenem Schutz vor dem Corona-Virus (weder aus Opernhäusern, noch aus Sprechtheatern wurde bisher ein einziger Zuschauerfall gemeldet!) ist es der Scala immerhin gelungen, an drei aufeinanderfolgenden Abenden Künstler von Weltrang für Soloauftritte zu verpflichten.

Den Anfang machte Marina Rebeka mit einem Programm, das im ersten Teil italienischen, im zweiten russischen Komponisten huldigte. Zunächst Verdi mit „In solitaria stanza“, der Nr. 3 aus seinen Sei romanze I, die noch vor seiner ersten Oper „Oberto, conte di San Bonifacio“ 1838 verlegt wurden. „Brindisi“, die Nr. 6 aus den Sei romanze II (1845) lässt den Hörer an die verschiedenen Trinklieder denken, die der Komponist für „Macbeth“, „Traviata“ oder „Otello“ schreiben sollte, während die aufschwingende Melodie der ersten Romanze sich in Leonoras Auftrittsarie aus dem „Trovatore“ wiederfindet. Dazwischen ein Alterswerk, das „Ave Maria“, dessen Text von Verdi fälschlich Dante zugeschrieben wurde. Von Francesco Paolo Tosti, der mit seinen als „Canzoni da salotto“ abqualifizierten Kompositionen in Italien nicht den erwünschten Erfolg hatte, obwohl er der Königin Margherita Gesangsunterricht erteilte, woraufhin er von 1870 bis 1910 nach London ging, von wo seine großen internationalen Erfolge ihren Ausgang nahmen, waren „Vorrei“ und „Visione“ zu hören, zwei weniger prominente (um einen heutigen Slangausdruck aufzunehmen, „abgelutschte“) Kompositionen. Schließlich konnte man von Ottorino Respighi „Notte“, „Pioggia“ und „Nebbie“ hören, 1912 auf Gedichte der bedeutenden italienischen Dichterinnen Ada Negri und Vittoria Aganoor Pompilj geschrieben.

Den zweiten Teil des Abends widmete die lettische Sopranistin russischen Komponisten. Je drei Kompositionen von César Cui und Tschaikowsky waren zu hören, gefolgt von fünf Stücken aus der Feder Rachmaninows. Die erste Gruppe zeigte, dass die von dem russischen Festungsbauingenieur und Mitglied des „Mächtigen Häufleins“ geschriebenen Stücke durchaus ihren Reiz haben, trotz des musikalisch höheren Gewichts seiner Kompagnons Borodin, Rimskij-Korsakow, Musorgskij, Balakirew. Der Tschaikowsky gewidmete Beitrag enthielt drei eindrucksvolle Stücke aus den „6 Romanzen“ op. 57, wovon „So schnell vergessen“ besonders dramatisch war. Die fünf den offiziellen Teil beschließenden Romanzen Rachmaninows wiesen große farbliche Vielfalt auf.

Marina Rebeka zeigte sich als sorgfältig abstufende Interpretin, die der Stimmung der jeweiligen Romanze immer gerecht wurde. Der höfliche Applaus steigerte sich erst gegen Ende, als das Publikum auf Zugaben in Form von Opernarien hoffen durfte und von der Sängerin nicht enttäuscht wurde, denn sie trug vier große Arien vor: „Un bel dì, vedremo“ (Butterfly), „Casta diva“ (Norma). Bolero (Sizilianische Vesper) und „E ben, andrò lontana“ (Wally). Auch diese waren in Hinsicht auf Stil und Expressivität ausgezeichnet, sodass nur um der Chronik willen erwähnt sei, dass der Schlusston bei Puccini und Catalani ein wenig forciert war. Giulio Zappa am Flügel erwies sich wiederum als hervorragender Begleiter, der besonders bei Rachmaninow seine solistischen Qualitäten voll ausspielen konnte.

Tags darauf ein Orchesterkonzert unter der Leitung von Riccardo Chailly mit Anna Netrebko als Solistin. Beschert wurde das glanzvolle Ereignis dem Scalapublikum durch ein CD-Projekt für DG, dem im Februar noch ein Abend mit deutschen Kompositionen folgen wird. Es war ein Abend der Sonderklasse mit bestens abgestimmtem Programm. Als erstes erklang die als Sinfonia bezeichnete Ouverture zu Verdis „Aida“. Wie, Ouverture? Hat „Aida“ nicht ein Vorspiel (preludio)? Maestro Chailly hatte es sich wieder einmal nicht nehmen lassen, ein Stück zu Gehör zu bringen, das Verdi für die Mailänder Erstaufführung seiner Oper geschrieben, aber dann zurückgezogen hatte. Es sollte wohl eine Ouverture im Stil jener der zur „Macht des Schicksals“ werden, denn zu hören sind alle großen Motive aus dem Werk, aber sie finden zu keinem großen Ganzen. Das war Verdi offenbar bewusst, und seine Entscheidung kann ich nach dieser Wiedergabe nur als richtig empfinden. La Netrebko trat dann mit „Ritorna vincitor“ vor ihr Publikum. Man hörte eine Wiedergabe, die mit prunkendem Material alles Leid der zwischen Heimattreue und Liebe zu Radamès zerrissenen Äthiopierin nacherleben ließ. (Als private Anmerkung sei mir gestattet, dass ich als „Anhängerin“ von Amneris und Amonasro die Arie nie zu meinen bevorzugten gezählt habe – hier hingegen litt ich mit Aida mit). Das prächtig gespielte lange Vorspiel zu Elisabettas Arie im letzten Akt von „Don Carlo“ stimmte perfekt auf Netrebko ein, die mit der Interpretation dieses Stücks einen weiteren Meilenstein der Interpretation schuf. Im Sinne des Ausdrucks resignierender Trauer in dieser Arie muss ich zu (der stimmlich ganz anderen) Sena Jurinac zurückgehen, um von Interpretin und Hörerin her ähnlich tiefe Emotionen zu empfinden.

Nach der Pause der graziöse „Tanz der Stunden“ aus Ponchiellis „Gioconda“, gefolgt von „Suicidio“, mit dem die Titelheldin ankündigt, wie sie sich ihrem Verfolger Barnaba durch Selbstmord zu entziehen gedenkt. Für Netrebkos voluminöses Material stellt auch diese neu in ihr Repertoire aufgenommene Arie keine wie immer geartete Schwierigkeit dar. Die Textinterpretation bedarf noch einer Vertiefung, was aber ein „Mäkeln“ auf allerhöchstem Niveau ist. Das Vorspiel zum 4. Akt von Cileas „Adriana Lecouvreur“ bot den Übergang zu „Poveri fiori“, mit welcher Arie Adriana dem Tod ins Auge blickt – auch hier Ergriffenheit pur. Der absolute Höhepunkt der Höhepunkte waren dann sowohl seitens des Dirigenten und des Orchesters, als auch der Solistin das Vorspiel zum 3. Akt „Butterfly“, gefolgt von „Un bel dì, vedremo“ und das Intermezzo zwischen 3. und 4. Akt von „Manon Lescaut“, gefolgt von „Sola… perduta, abbandonata“. Was sich hier begab, war eine Einheit von großer Komposition und einer Interpretation, die völlig auf der Höhe dieser Komposition stand – darf Emotion ekstatisch genannt werden? Ich hoffe es, denn genau das war mein Empfinden.

Als Dank für die enthusiastische Zustimmung servierte Anna Netrebko nach all diesen leidenschaftlichen Ausbrüchen – den Walzer der Musette! Dieses erotische Geplänkel einmal mit einer über das „Fach“ hinausreichenden Stimme zu hören, war schon ein Genuss, dazu kam die Interpretation eines so selbstsicheren wie schelmischen Persönchens.

Klar, dass das Publikum tobte, aber gerechterweise auch Chailly und das brillante Orchestra del Teatro alla Scala heftig miteinbezog.

Zum Abschluss dieser drei Tage intensiven musikalischen Genusses waren Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch mit dem Liedprogramm zu hören, das sie auch an der Wiener Staatsoper vor kurzem absolviert hatten. Da wegen der Pandemie für Italien eine Ausgangssperre von 23 bis 5 Uhr verfügt worden war, erklärte Kaufmann, auf eine Pause zu verzichten, um dem Publikum eine zeitgerechte Rückkehr an seine Wohnstätten zu ermöglichen.

Kaufmann und Deutsch präsentierten mit bewunderungswürdiger Konzentration das umfangreiche Programm von 27 Liedern, das der hübschen Idee entsprang, auch Stücke aufzunehmen, die im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert überaus populär waren, heute hingegen in einem „seriösen“ Liedprogramm nicht viel zu suchen hätten (als Beispiele erwähne ich Friedrich Silchers „Ännchen von Tharau“ und „In mir klingt ein Lied“, wo Alois Melichar Chopin (op. 10, Nr. 3) bearbeitet hatte). Darüber klärte das aus dem Wiener Programm zum Konzert übernommene Interview von Thomas Voigt mit Kaufmann und Deutsch auf. Ein Nachteil war die ungenügende Beleuchtung des Saals, in dem viele Zuhörer mit Hilfe von Handybeleuchtung versuchten, den Übersetzungen der Liedtexte zu folgen. Bei solcher Fülle deutscher Texte müsste bei der Beleuchtung eine Lösung gefunden werden. Auch sollte das Publikum gebeten werden, nicht nach jedem, aber wirklich jedem Lied zu applaudieren, was für die Atmosphäre im Saal und die Konzentration der Künstler nicht eben hilfreich ist.

Jonas Kaufmann war in guter Form, obwohl mir so manche seiner piani die Grenze zum Falsett zu überschreiten schienen; außerdem gefiel mir seine Textdeutlichkeit besonders. Helmut Deutsch braucht man keine Lorbeeren mehr zu streuen, denn er ist einer der größten Meister seines Fachs.

Das (insgeheim wohl wieder auf Opernarien hoffende) Publikum erklatschte sich vier Zugaben: 3 Lieder von Richard Strauss und schließlich das populäre neapolitanische Lied „Core ’ngrato“, das auch von manch italienischem Tenor nicht mit solcher Expressivität und wunderbarer Behandlung des Dialekts vorgetragen wird/wurde. Ein mitreißender Abschluss, der so recht den Unterschied zwischen Melancholie oder Trauer deutscher und italienischer Natur aufzeigte.

Eva Pleus 27.10.20

Bilder: Brescia&Amisano / Teatro alla Scalapublikum