Aufführung am 2.2.22
Die letzte Vorstellung dieser Oper von Vincenzo Bellini fand vor sehr gut besuchtem Haus statt, womit die Direktion offenbar nicht gerechnet hatte, denn schon 20 Minuten vor Vorstellungsbeginn war kein Programmheft mehr aufzutreiben.
1830 in Venedig uraufgeführt, benötigte der Komponist aus Catania die für seine Verhältnisse kurze Zeit von drei Monaten für die Komposition, weil er große Teile seiner 1829 erfolglos gebliebenen „Zaira“ für sein neues Werk verwendete bzw. überarbeitete (und Giuliettas große Arie „Ah quante volte quante“ stammt gar aus seiner ersten Oper „Adelson e Salvini“). Shakespeares „Romeo und Julia“ kannte er nicht und vertonte ein schon vorhandenes Libretto von Felice Romani, das bereits 1825 von Nicola Vaccaj vertont worden war und auf einer Novelle aus 1554 von Matteo Bandello basierte. Die Schauplätze und Personen gehören alle zur Familie Capuleti/Capulet, von den Montecchi/Montague sehen wir nur Romeo. Dieser hat hier während der Fehde zwischen den beiden Familien einen Sohn Capulets getötet. Zu Giuliettas Gemahl wird vom autoritären Vater Capellio Tebaldo/Tybalt bestimmt. Pater Lorenzo kennt die Geschichte der beiden Liebenden, dann nimmt das Drama seinen gewohnten Lauf, obwohl Giulietta zunächst zögert, weil ihre Liebe zu Romeo mit der zu ihrem Vater in Konflikt steht.
Enttäuschend die Regie des in Wien mit „Hänsel und Gretel“ und „Otello“ bekannt gewordenen Adrian Noble. Immerhin war der Mann jahrelang Leiter der Royal Shakespeare Company, aber außer Chorarrangements ist ihm nicht viel eingefallen, will man nicht den Toten, der zu Beginn der Oper blutüberströmt auf der Bühne liegt, dann aufsteht und weggeht, um später mehrmals grundlos durch die Handlung zu irren, unter „Einfall“ verbuchen, denn unverzeihlich sind die von einer stolzierenden Dienerschaft zur Hochzeitsmusik über die Bühne getragenen Torten: Bei dieser Szene wähnt man sich bei Rossini und speziell in „Cenerentola“. Das düstere Bühnenbild von Tobias Hoheisel entwickelte nur in der letzten Szene einen gewissen Charme, was aber mehr der Beleuchtung von Jean Kalman/Marco Filibeck zu verdanken war. Kostümbildnerin Petra Reinhardt hüllte Giulietta in ein prachtvolles Brautkleid und stattete Romeo mit Hosenträgern aus. Chor uns Solisten trugen Phantasieuniformen.
Leider war der ausgewiesene Belcantospezialist Evelino Pidò acht Tage vor dem Premierentermin an Covid erkrankt und wurde durch Speranza Scappucci ersetzt, von der Direktion als die erste Frau, die an der Scala eine Oper dirigiert, vorgestellt, wobei auf Susanna Mälkki, vor einigen Jahren für Francesconis zeitgenössisches Werk „Quartet“ am Pult, offenbar vergessen wurde. Scappuccis eher preußisch anmutendem Dirigat fehlte die Durchsichtigkeit und damit Bellinis nur scheinbar einfachen Harmonien die Tiefe.
Sie leitete das Orchester des Hauses mit Sicherheit, aber ohne rechtes Gespür für eine Symbiose von Musik und Text. Solide der hier nur aus Herren bestehende Chor unter der Leitung von Alberto Malazzi.
Das Liebespaar wurde von zwei Sängerinnen interpretiert, die in relativ kurzer Zeit eine Weltkarriere gemacht haben. Lisette Oropesa, die Amerikanerin mit kubanischen Wurzeln, war eine stimmlich makellose Giulietta mit wunderbaren Gesangsbögen und bruchloser Stimmführung. Gerührt hat mich ihr Schicksal allerdings nicht, denn hinter ihrer gesanglichen Makellosigkeit vermochte ich keine Gefühle zu entdecken. Die Französin Marianne Crebassa, vokal nicht ganz so perfekt (die tieferen Töne klangen weniger timbriert als die Mittellage), aber immer auf hohem Niveau, war hingegen auch szenisch die ideale Verkörperung von Romeo. Sie war wirklich ein zügellos verliebter junger Mann. So ergab es sich, dass die beiden Künstlerinnen, deren Altersunterschied nur vier Jahre beträgt, trotz Oropesas blendendem Aussehen mich in ihrem großen Duett an die Konstellation Marschallin-Oktavian erinnerten. Für den Tebaldo war anstelle des vorgesehenen René Barbera, der zu Covidzeiten die USA nicht verlassen wollte, der chinesische Tenor Jinxu Xiahou verpflichtet worden, der zu Direktor Meyers Wiener Zeiten zum Ensemble gehörte. Die Höhen der schwierigen Rolle hat er, aber sehr edel ist sein Material nicht, und auch in Hinsicht auf Expressivität blieb viel Luft nach oben. Dem Lorenzo verlieh Michele Pertusi seine gesangliche und szenische Autorität – eine wahre Luxusbesetzung der kleinen Rolle. Als Capellio hinterließ der gleichfalls in Wien bekannte Jongmin Park mit dunklem Bass einen guten Eindruck.
Viel Zustimmung und Ovationen für Oropesa/Crebassa eines Publikums, das merklich glücklich war, wieder live einer Oper beiwohnen zu können.
P.S.: Ich weiß schon, philologisch nicht akzeptabel, aber welche Erinnerung an Aragall als Romeo und Pavarotti als Tebaldo unter Claudio Abbado!
Am 9.1. gab es einen aus verschiedenen Gründen hochinteressanten Liederabend. Zum einen, weil Waltraud Meier damit ihren Abschied von der Scala und italienischen Bühnen im allgemeinen nahm. Zum anderen war es auch die Auswahl eines Teils der Lieder, die ihr Partner Günther Groissböck getroffen hatte. Er begann mit drei Liedern von Hans Rott auf Texte von Goethe. Rott (1858-1884) war der einzige wirkliche Schüler von Anton Bruckner und nach Aussage seines Kommilitonen Guido Adler der begabteste Student der Komposition am Wiener Konservatorium der Siebzigerjahre des 19. Jahrhunderts. Als seine 1. Symphonie, mit der er eine Synthese von Wagner und Brahms erstrebte, von letzterem abgelehnt wurde, kippte der junge Komponist in den Wahnsinn und verstarb noch nicht 26-jährig. Die drei zu hörenden Werke ließen, auch wegen der dichten Klavierbegleitung, verstehen, welcher Neuerer da der Musikwelt verloren gegangen ist. Denkt man an Bruckner, so eher nicht an Liedkompositionen. Die drei Stücke, auf Texte von Geibel, Ernst und Platen, bewiesen in Groissböcks intensiver Interpretation aber, dass der große Symphoniker auch auf diesem Gebiet etwas zu sagen hatte. Ein erster Höhepunkt waren Hugo Wolfs Michelangelo-Lieder, die drei letzten Liedkompositionen des neben Schubert größten Vertreters dieses musikalischen Fachs.
Dann erschien Waltraud Meier und wurde mit langem Applaus begrüßt. Ihre Interpretation von 6 Mörike-Liedern Hugo Wolfs wies sie sofort als die große Liedinterpretin aus, die sie ist. (Zum Glück gebot sie mit einer Handbewegung Einhalt, als ein Teil des Publikums gleich nach dem ersten Stück wieder klatschen wollte, wie es leider schon bei Groissböck der Fall gewesen war).
Ab da war das reichhaltige Konzert Gustav Mahler und seinem „Des Knaben Wunderhorn“ gewidmet, aus dem die Künstler abwechselnd vortrugen. Meier sang das „Rheinlegendchen“, „Das irdische Leben“, „Wo die schönen Trompeten blasen“, „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ und „Urlicht“, Groissböck „Lob des hohen Verstandes“, „Revelge“, „Zu Straßburg auf der Schanz’“, „Selbstgefühl“ und „Der Tambourg’sell“. Gemeinsam interpretierten sie „Der Schildwache Nachtlied“ und „Lied des Verfolgten im Turm“. Jedes Lied wurde als Juwel, das es ist, präsentiert, und angesichts solcher künstlerischen Höhenflüge verbietet sich jeglicher (eventuelle) kritische Kommentar. Die ersten beiden Zugaben galten Schubert: „Du holde Kunst“ bei Groissböck, „Erlkönig“ bei Meier. Gemeinsam verabschiedeten sie sich vom enthusiasmierten Publikum mit Mahlers augenzwinkerndem „Trost im Unglück“.
Die beiden Künstler fanden in Joseph Breinl einen mehr als vorzüglichen Begleiter, der die Klavierparts auf Augenhöhe mit den Sängern interpretierte und seinem Instrument damit die Bedeutung verlieh, die es verdient.
Für Waltraud Meier gab es zum Abschluss Dankesworte und Blumen von Intendant Dominique Meyer, sowie einen übergroßen, gerahmten Besetzungszettel der „Walküre“, mit der die Scalasaison 1994/95 eröffnet wurde, und in der Meier die Sieglinde sang.
Eva Pleus 12.2.22
Bilder: Brescia&Amisano / Teatro alla Scala