Aufführung am 5.11.21 (Premiere am 30.10.)
Zu einer Oper aus dem 17. Jahrhundert, deren Titel bis vor nicht allzu langer Zeit nur Spezialisten und Fans der Alten Musik geläufig war, müssen vielleicht ein paar Worte gesagt werden. Ihr Komponist Francesco Cavalli wurde als Pietro Francesco Caletti-Bruni 1602 im norditalienischen Crema geboren und nahm später den Namen seines Gönners Federico Cavalli an, der sein musikalische Talent erkannt und ihn nach Venedig zum Studium verbracht hatte. Dort war Cavalli Schüler von Claudio Monteverdi und machte eine steile Karriere. An dieser war neu, dass seine uns bisher bekannten 13 Opern nicht für höfische Aufführungen geschrieben waren, sondern für ein „normales“, zahlendes Theaterpublikum, wie es sich gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts – zunächst allein in Venedig – entwickelte.
In Giovanni Faustini hatte Cavalli einen Librettisten gefunden, der die Blüte der venezianischen Textdichter, beginnend mit Francesco Giovanni Busenello, dem das Libretto für Monteverdis „Incoronazione di Poppea“ zu verdanken ist, auf höchstem Niveau fortsetzte. Dies betrifft sowohl die Poesie der Verse, als auch den Scharfsinn der Kritik gegenüber den die Forschung und Wissenschaft bekämpfenden kirchlichen Behörden. (Hier konnte Venedig als unabhängige Republik zu einem Vorreiter der Gedankenfreiheit werden).
Die Regie von David McVicar trug dieser Situation Rechnung und stellte wiederholt Galileis berühmtes Teleskop in den Mittelpunkt („La Calisto“ wurde 1651 uraufgeführt, Galilei war von der Kirche 1633 gezwungen worden, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu leugnen). Im noch Monteverdis Beispiel folgenden Prolog diskutieren La Natura, L’Eternità und Il Destino in einem von Rembrandt inspirieren Bühnenbild (Charles Edwards) und entsprechenden Kostümen (Doey Lüthi): Diese waren besonders phantasievoll.
Das Schicksal/Il Destino ist stärker auch als Die Ewigkeit/L’Eternità und alles andere, denn seine Entscheidungen kennen nicht einmal die Götter. Die Erzählung folgt dann den „Metamorphosen“ des Ovid und zeigt uns Giove/Jupiter, der sich auf die Erde begeben hat, um sie wieder grünen zu machen, nachdem Apollos Sohn Phaëton durch den Sturz des von ihm gelenkten Sonnenwagens alles verbrannt hatte. Hier erblickt Giove di Nymphe Calisto und entbrennt (wieder einmal) in Liebe zu ihr. Calisto gehört aber zu den Diana/Artemis verpflichteten Jägerinnen und lehnt Jupiters Ansinnen empört ab. Da empfiehlt ihm sein Begleiter Mercurio (in seinen schlauen Ratschlägen an Loge erinnernd), sich Calisto als Diana zu nähern. Calisto ist entzückt, sich „ihrer Göttin“ hinzugeben, aber als die echte Diana schockiert ist, von angeblichen Liebesvergnügungen mit ihrer Nymphe zu hören, weiß diese nicht mehr, was sie denken soll. (Hier ist Venedigs auch sexuelle Freiheit gut zu beobachten – im Rest der damaligen westlichen Welt wurde die Stadt als „bordello“ bezeichnet).
Schließlich kommt es zum Auftritt von Giunone/Juno, die den Trick Jupiters bald durchschaut, aber ihren Zorn an der grundsätzlich schuldlosen Calisto auslässt, indem sie sie in einen Bären verwandelt. Hier wird Jupiters kleines Abenteuer zu einer von wahrem Gefühl getragenen Liebesgeschichte, denn er verwandelt Calisto am Firmament in den Großen Bären (im deutschsprachigen Raum als ‚Großer Wagen‘ bekannt). Das im letzten Duett der beiden ausgedrückte Gefühl ist wie für die Ewigkeit gedacht. Daneben gibt es Endimione, im Libretto als Schäfer vorgestellt, der Diana liebt, die seine Gefühle erwidert. Allerdings sollte sie das als Göttin der Jungfräulichkeit nicht. Sie entscheidet sich zum Verzicht, dem Endimione folgt, wenn er erklärt, sie nur mehr als Symbol für die Anbetung des Mondes (dem Diana zugeschriebenen Gestirn) sehen zu wollen.
Das Teatro Sant’Apollinare, wo die Uraufführung stattfand, war das kleinste der venezianischen Häuser; für die ersten Opern notierten die Komponisten bekanntlich nur die Gesangslinie und den Generalbass, an manchen Stellen verstärkt durch zwei Violinen. Für die Instrumentalisten blieb viel Raum für Improvisation, und es gelang ihnen sicher, den recht kleinen Raum zu füllen. Ein moderner Saal – und dazu ein so großer wie der der Scala – verlangt andere Voraussetzungen, und Christophe Rousset fügte seinem Ensemble Les Talens Lyriques (zahlenmäßig auch von einigen Mitgliedern des Scala-Orchesters auf historischen Instrumenten verstärkt) zu Theorbe und von ihm selbst gespieltes Cembalo auch mehrere Bratschen und einen mehrfach besetzten Generalbass hinzu.
Das Klangbild war dennoch nicht unbedingt üppig, aber die Klangqualität war so gut, dass dies nicht weiter ins Gewicht fiel.
Umso mehr, als die vokale Besetzung, mit einer Ausnahme, vorzüglich war. Die Titelrolle sang Chen Reiss mit biegsamem Sopran und ebensolcher Körpersprache. Als Diana hatte Olga Bezsmertna die umfangreichste Aufgabe, denn anders als etwa in der Einspielung von René Jacobs hatten sich Rousset und McVicar dafür entschieden, Jupiter als Calisto hofierende Göttin nicht im Diskant singen zu lassen. (Im Programmbuch waren differierende Angaben dazu zu lesen: Ein Autor schreibt, Cavalli habe einen auf Falsettgesang spezialisierten Bass zur Verfügung gehabt, ein anderer, dass man aus den buchhalterischen Aufzeichnungen zu den venezianischen Aufführungen entnehmen könne, dass die Sängerin der Diana ein viel höheres Honorar bekam als der Interpret des Jupiter, weshalb daraus geschlossen wird, die Rolle sei länger und anstrengender gewesen). Bezsmertna entledigte sich ihrer doppelten Aufgabe sehr geschickt und war in beiden Rollen überzeugend.
Luca Tittoto ließ als Jupiter aber bedauern, dass seine Rolle dadurch relativ kurz war. Den mit allen Wassern gewaschenen Mercurio gab Markus Werba mit seiner bekannten stimmlichen und szenischen Wendigkeit. Herausragend war der Counter Christophe Dumaux als sich nach Diana verzehrender, aber schließlich platonischer Liebe ergebender Endimione. Die Mezzosopranistin Chiara Amarù erheiterte als Nymphe Linfea, die einen Mann ersehnt, obwohl sie zu Dianas Gefolge gehört. Sehr unterhaltsam geriet auch der kleine Satyr (Satirino) von Damiana Mizzi. Mit starker Persönlichkeit stellte Veronique Gens eine geradezu imperiale Juno auf die Bühne. Als Waldgott Silvano und zwei Furien ergänzten der Bass Luigi De Donato bzw. Federica Guida und Svetlina Stoyanova. Die beiden letztgenannten überzeugten auch als Eternità und Destino, während John Tessier als Natura und später als Pan einen unangenehm quengeligen Tenor hören ließ.
Leider war das Haus bei dieser dritten von fünf Vorstellungen nicht sehr gut gefüllt, aber die Anwesenden feierten die Produktion (zu deren Gelingen auch die Beleuchtung von Adam Silverman und die Choreographie von Jo Meredith beigetragen hatten) am Schluss mit berechtigtem Jubel.
Eva Pleus 17.11.21
Bilder: Brescia&Amisano / Teatro alla Scala