Die Neuproduktion der Oper von Richard Strauss konnte 2021 wegen der Pandemie nicht vor Publikum über die Bühne gehen und war nur einigen ausgewählten Journalisten während der Aufzeichnung für ein Streaming gezeigt worden. Nun konnte sie unter normalen Bedingungen gespielt werden (bei der erwähnten Aufzeichnung waren Orchester und Dirigent ja im Parkett platziert gewesen). Der Eindruck, den ich vor nunmehr zwei Jahren hatte, ist unverändert geblieben, weshalb ich mir erlaube, aus meinem damaligen Bericht zu zitieren:
Damiano Michieletto, Italiens Beitrag zum Regietheater, versetzt die Geschichte aus Judäa in ein beliebiges Heute, in dem sich das übliche Personal aus sektschlürfenden Smokingträgern zusammenfindet. Um die familiären Verhältnisse zu klären, sehen wir ein Diagramm, welches erklärt, dass Salome die Tochter von Herodes Philippus und der Herodias ist. Er wurde von letzterer und seinem Halbbruder Herodes Antipas ermordet, wodurch Salome nach seiner Heirat mit Herodias zu dessen Stieftochter wurde. Diese war gemäß Michieletto bereits als Kind das Objekt der sexuellen Begierde des Stiefvaters. Eine sich im Bühnenhintergrund öffnende Tür zeigt das Kind mit seiner Puppe, wie sich der Mann dem Bett nähert, nicht ohne zuvor eine Metallmaske angelegt zu haben.
Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich Michielettos Regie: Auf einer grell erleuchteten weißen Bühne mit schwarzen, von Neonleisten gerahmten Seitenteilen (Paolo Fantin, der immer zu Michielettos Team gehört), spielt sich vieles nach Schema F ab, anderes wirkt sonderbar. So muss Narraboth („Er war sehr schön“) einen grauen Anzug mit Gilet und eine Brille tragen, die ihn zum grauen Bürokraten stempeln. Der Page wird zu einer Gouvernante der Salome, die fast die ganze Dauer der Oper besorgt der Handlung folgt. Bevor Jochanaan aus einem sich in der Bühnenmitte öffnenden Kreis auftaucht, erscheinen fünf Todesengel mit schwarzen Flügeln und verbundenen Augen (Kostüme: wie immer Carla Teti, Beleuchtung: Alessandro Carletti). Jochanaan hat langes Haar wie wir es aus der Jesus-Ikonographie kennen und trägt ein Lamm im Arm. Bei „Des Menschen Sohn“ gräbt er auf der mittlerweile mit einer Art Kohlenstaub bedeckten Scheibe eine Puppe aus. Ein Todesengel schüttet Blut über das Kindlein und legt es auf der Scheibe nieder. Jochanaan löst eine schwarze Feder von einem der Todesengel, und Narraboth erschießt sich. Während ein großes Schild nochmals an Herodes Philippus erinnert, versinkt Jochanaan nach „Sei verflucht“, und die Todesengel gehen ab. Nun öffnet sich wieder die Tür im Hintergrund, und wir sehen eine großbürgerliche Tafel, an der es keineswegs orgiastisch zugeht. Die Juden verlassen ihre Plätze, um ihre Dispute durchzuführen, während derer es schwarze Federn vom Himmel regnet. Eine lila Kugel sinkt herab und wird von Salome wiederholt angestoßen, was zur Flucht der Juden führt. Der Tanz wird als Alptraum gezeigt, indem das zuvor wieder aufgetretene kleine Mädchen Herodes eine Metallmaske gibt und mit ihm abgeht, während die erwachsene Salome von sechs hemdsärmeligen Männern mit derartigen Masken bedrängt wird (was ich nicht unbedingt als Choreographie bezeichnen würde, stammt von Thomas Wilhelm). Nach Herodes‘ Rückkehr und dem perversen Wunsch der Salome (wobei wieder das Kind im Bett samt Todesengeln zu sehen ist) symbolisieren rote Stricke Blut, während sie wie befreit im Kreis geht. Nun taucht ein Auszug aus dem berühmten Gemälde von Gustave Moreau auf, wo der Prophet in einem an eine Monstranz erinnernden Strahlenkranz zu sehen ist. Von dort rinnt Blut in eine Schale, das von einem der Todesengel in einen Kelch geschüttet und Salome dargeboten wird. Sie küsst also nicht das Haupt des Jochanaan, sondern trinkt dessen Blut. Schon bei „Man töte dieses Weib“ sinkt der Vorhang: Tod und Verklärung Salomes…
Wir haben also eine nicht uninteressante, symbolbefrachtete Inzestgeschichte gesehen, der die wichtigsten Charakteristika des Themas fehlen – die schwüle Atmosphäre und die damit einhergehende dampfende Erotik.
Michieletto hatte davon gesprochen, ein paar Änderungen vorgenommen zu haben, die aber keine zusätzlichen Effekte brachten: Narraboth erschießt sich nicht mehr, sondern schluckt eine große Menge Pillen, mit denen er auch um sich wirft (bleibt die Frage, wie Herodes in seinem Blut ausrutschen kann…). Zum Küssen steht Salome nun ein kleiner Totenkopf zur Verfügung, und sie verschwindet dann freiwillig in Jochanaans Zisterne. Andere Änderungen sind mir nicht aufgefallen, mit Ausnahme eines in viele rote Stränge geteilten, langen Kleides anstelle der Stricke, das Salome trägt, während sie in die Höhe gezogen wird – warum?
Nachdem der als Dirigent vorgesehene Zubin Mehta ausgefallen war, wollte Musikdirektor Riccardo Chailly übernehmen, aber die Proben mit gleichzeitigen Vorstellungen von „Boris Godunow“ waren zu viel für ihn, und es übernahmen Axel Kober und Michael Güttler. Ich hörte bei dieser ersten Reprise Kober, dem es gelang, mit dem inspiriert spielenden Orchester des Hauses jene schwül lastende erotische Atmosphäre zu schaffen, die der Inszenierung so sehr abging.
Die Titelrolle sang nach Yelena Stikhina im Vorjahr nun die Litauerin Vida Mikneviciute. Die zierliche 44-Jährige verfügt über gute stimmliche Kraftreserven für die Schlussszene und folgt mutig dem Regiekonzept, das ihr viel Bewegung, gar Rasanz, vorschreibt. Als Persönlichkeit wirkte sie nicht besonders stark, und ihrem kraftvollen Singen fehlte das gewisse Strauss-Timbre. (Auch die Diktion hätte markanter sein dürfen). Sie stand durchaus im Schatten der Persönlichkeit von Linda Watson, die der Herodias mit jedem Auftritt schärfstes stimmlichen und szenisches Profil schenkte. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke gab einen Präzise gesungenen Herodes, aber Gerhard Siegel war vor zwei Jahren schauspielerisch präsenter. Michael Volle (vor zwei Jahren Wolfgang Koch) war ein apodiktischer Jochanaan, den keine Zweifel über die Richtigkeit seiner Botschaft anfochten. Schönstimmig erklang der Narraboth von Sebastian Kohlhepp (in der Streamingaufzeichnung Attilio Glaser), während es Lioba Braun (Page=Gouvernante) an der nötigen Tiefe fehlte (sie ist halt ein Mezzo und nicht der von Strauss vorgeschriebene Alt). Erfreulich ausgewogen das Quintett der Juden, bestehend aus Matthäus Schmidlechner, Matthias Stier, Patrick Vogel, Patrik Reiter und Horst Lamnek.. Sehr verlässlich der Erste Nazarener von Jiri Rajnis,begleitet von Sung-Hwan Damien Park als Zweiter Nazarener.Erster und Zweiter Soldat waren Alexander Milev und Bastian Thomas Kohl, den Kappadokier gab Matías Moncada, als Sklave ergänzte Hyon-Seo Davide Park (Moncada und die beiden Parks von der Accademia della Scala).
Eva Pleus, 28. Januar 2023
Richard Strauss: Salome
Teatro alla Scala, Milano
Besuchte Aufführung: 17. Januar 2023
Premiere am 14. Januar 2023
Bühnenbild: Paolo Fantin
Kostüme: Carla Teti
Beleuchtung: Alessandro Carletti
Choreographie: Thomas Wilhelm (betreut von Erika Rombaldoni)
Inszenierung: Damiano Michieletto
Musikalische Leitung: Axel Kober
Orchestra del Teatro alla Scala