Die Produktion von Jules Massenets beliebtester (neben seiner „Manon“) Oper war die vorletzte vor der Sommerpause und in jeder Hinsicht gelungen. Es ist eine recht selten gewordene Freude, über die vollständige Harmonie der szenischen mit der musikalischen Seite berichten zu können.
Ebenso selten ist es, dass eine Einheitsbühne für alle vier Akte Sinn macht bzw. als die Lösung erscheint. Johannes Leiacker zeigt eine zwischen weiß und beige changierende Hauswand mit einer großen Schiebetür als Eingang. Auf dem Platz davor spielen sich sämtliche Szenen ab, für die je nach Bedarf ein Tisch oder Stühle genügen. (Der Regisseur bezeichnet dies als „das Vorzimmer eines nicht gelebten Lebens“). Von der Welt im Haus ist Werther ausgeschlossen; wenn sich die Tür öffnet, ist im 2. Akt zu sehen, wie eine Tafel für ein Familienfest gedeckt wird, im 3. der Weihnachtsbaum und zum tragischen Ende nur mehr das Skelett eines solchen. Auch die Kostüme von Robby Duiveman sind zwischen elegant und häuslich der jeweiligen Situation bestens angepasst. In der raffinierten Beleuchtung von Roland Edrich führte Christof Loy vorbildlich Regie. Auf dem Besetzungszettel zeichnet er auch für die „Choreographie“ verantwortlich, was als Bezeichnung zunächst verwundern mag, doch stellt sich bald heraus, dass seine Personenführung durchaus auch als choreographisch bezeichnet werden kann, so genau entspricht der Duktus der Gesten jeder kleinsten Nuance im Gemütszustand der Protagonisten ohne je artifiziell zu wirken. Interessant ist auch, wie Loy der Rolle der Sophie neues Gewicht verleiht und aus ihrem kindlichen Gezwitscher die Qualen eines Teenagers macht, der sich als Erwachsener behandelt fühlen will. Die präzisen singenden Kinder sind ausgezeichnet geführt und hüpfen nicht, wie so oft, sinnlos herum, sogar die (für mich) entbehrlichen Figuren von Johann, Schmidt, Brühlmann und Käthchen bekommen Profil.
Mehr als überzeugend, wie schon erwähnt, die musikalische Seite, denn Alain Altinoglu spornte das Orchester des Hauses zu großer romantischer Attitüde an, aus welcher der Dirigent alles an Eleganz, Farben, Details und sehrender Dramatik holte. Mit Benjamin Bernheim stand mit Sicherheit der derzeit weltbeste Vertreter der Titelrolle auf der Bühne. Er verleiht der Figur alle Schattierungen zwischen überschwänglichen romantischen Gefühlen und Todessehnsucht, wirkte immer glaubwürdig ohne ins Exaltierte zu abzugleiten. Auch die stimmliche Beherrschung ist souverän. Hochinteressant war die Begegnung mit der Russin Victoria Karkacheva, deren Mezzo sich in der Briefszene zu dramatischen Höhepunkten aufschwang, doch wusste die Sängerin ihr bedeutendes Material auch den lyrischeren Momenten anzupassen.
Diese Charlotte litt geradezu körperlich an dem Zwiespalt zwischen Pflicht und Liebe. Nur an ihrem Französisch muss sie noch feilen. Mit angenehm tönendem Sopran setzte Maria Pia Vitale die oben beschriebene Charakterisierung der Sophie punktgenau um. Ideal Jean-Sébastien Bou als verklemmter, unsicherer Albert, dessen leicht polternder Bariton perfekt zur Figur passte. (In dieser Produktion zwingt Albert seine Frau, die Pistolen, die zu Werthers Selbstmord führen werden, diesem persönlich zu übergeben, wie auch er und Sophie Werthers Todeskampf beiwohnen; eine solche Szene kann nur mit schauspielerisch wirklich guten Interpreten bewältigt werden, und die standen hier zur Verfügung). In den kleineren Rollen seien noch Armando Noguera (Bailli), Rodolphe Briand (Schmidt) und Enric Martinez-Castignani (Johann) erwähnt; sie alle verliehen ihren Figuren das passende Profil.
Riesenjubel für alle, mit Spitzenwerten für Bernheim und Altinoglu.
Eva Pleus, 28. Juni 2024
Werther
Jules Massenet
Teatro alla Scala
19. Juni 2024
Inszenierung: Christof Loy
Musikalische Leitung: Alain Altinoglu
Orchestra del Teatro alla Scala