Denjenigen Lesern, die die TV-Übertragung der Scala-Eröffnung gesehen haben, kann ich versichern, dass die Vorstellung live einen wesentlich besseren Eindruck machte. Das mag qualitativ an der RAI-Technik mit Einschränkungen, die die Akustik ebenso betrafen wie die Bildregie gelegen sein, aber auch an einer von der PR-Maschinerie in den Paroxysmus getriebenen Erwartungshaltung, die die nervöse Anspannung der Künstler wohl noch steigerte.
Jedenfalls war diese vierte Vorstellung der Serie musikalisch ein großer Genuss. Um einmal der Reihenfolge des Librettos (und des Programmzettels) zu folgen: Michele Pertusi hatte sich von seiner Indisposition bei der Premiere zur Gänze erholt und war der eindringliche Filippo II., den wir schon von ihm kennen. Das etwas helle Timbre und die relative Leichtgewichtigkeit (verglichen mit einem Siepi oder Christoff) seines Basses setzt er geschickt ein, um die weichere, eigentlich selbstmitleidige Seite des Königs zu unterstreichen und rührt mit „Ella giammai m’amò“ zutiefst; in der Szene mit Elisabetta wird er wieder zum eifersüchtigen Haustyrannen. Eine facettenreiche Leistung! In der Titelrolle umschiffte Francesco Meli (besser als bei der Premiere) geschickt die dramatischen Klippen der Titelrolle, in der sich Tenöre wie Jon Vickers oder Franco Corelli wesentlich leichter taten. Aber er war ein überzeugend neurotischer Infant, der seine Stimmungsschwankungen technisch raffiniert zum Ausdruck brachte (wunderbar z.B. das nostalgische Piano von „Fontainebleau“ bei seinem Arioso im ersten Auftritt). Posa war in der Interpretation von Luca Salsi weniger der noble Edelmann als ein zupackender Humanist, wie man ihn sich auch bei Amnesty International vorstellen könnte. Das betrifft seine szenische Gestaltung ebenso wie seine packende musikalische Leistung. Jongmin Park, dem Wiener Opernpublikum aus der Ära von Dominique Meyer bekannt, ersetzte den nach der Generalprobe erkrankten Ain Anger als Großinquisitor stimmlich überzeugend, doch da dem jungen Sänger noch die Autorität für eine solche Rolle fehlt, klang sein Bass fast zu weich und schön (und warum er nicht auf einen gemäß Libretto Neunzigjährigen geschminkt war, bleibt eine offene Frage). Sein Frate im 1. Akt, für den allein er ursprünglich vorgesehen war, klang imposant. Im Schlussbild wurde er als Carlo V. von Huanhong Li gedoubelt, einem der flandrischen Gesandten im Autodafé.
Nun zu den Damen: Für Anna Netrebko ist Elisabetta di Valois eine zwiespältige Rolle, denn ich habe das Gefühl, dass ihr Temperament nach Rollen verlangt, in denen sie nicht die Sanfte, Verlierende, spielen muss (siehe Desdemona, die sie immer abgelehnt hat). Dementsprechend bleibt sie in der Gartenszene (für „Addio, mia compagna“ ist ihre Stimme auch etwas schwer) und in der Szene mit Don Carlo als Persönlichkeit blass, während sie bei der Auseinandersetzung mit ihrem Gemahl eine selbstsichere Frau gibt, die sich nicht in ihren persönlichsten Gefühlen verletzen lassen will. Schon hier stimmlich hervorragend, wird ihre Arie im letzten Akt zu einer Lektion, was technisch vollendeter Gesang, bereichert um höchste Expressivität, bewirken kann. Das ist der ganz große Gänsehauteffekt, der sich während des herzzereißenden Schlussduetts mit Carlo fortsetzt. Die Eboli von Elina Garança ist im Schleierlied geradezu beglückend. Wann hat man dieses Stück in seiner ganzen Frivolität je so technisch souverän vortragen gehört? „O don fatale“ gelang eindrücklich, aber die etwas schmale (allerdings lobenswerterweise nie künstlich verbreiterte) Tiefe fehlte hier, was sich noch stärker im Gartenterzett ab „Trema figliolo“ auswirkte. Insgesamt aber eine zurecht bejubelte Leistung.
Bei den Comprimari war Elisa Verzier ein korrekter, aber blasser Tebaldo, wohingegen Jinxu Xiahou (auch er aus Wien bekannt) einen strahlenden Herold bzw. Lerma sang und Rosalia Cid als Stimme vom Himmel gefiel. Von den sehr schön singenden flämischen Deputierten waren vier Asiaten (und alle aus der Accademia della Scala), der fünfte der in Graz bekannte Neven Crnic aus Bosnien-Herzegowina und nur der sechste ein Italiener (ich hoffe immer noch, dass er als Bariton eine Namensänderung vornimmt, um nicht an dem gleichnamigen Superstar der Zwanziger- und Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts mit derselben Stimmlage gemessen zu werden…).
Auch die musikalische Leitung von Riccardo Chailly klang beim direkten Hören wesentlich überzeugender. Hatte man bei der TV-Übertragung den Eindruck einer gewissen Schwere und Dumpfheit, so erwies sich nun die dem Stoff und Verdis Musik innewohnende Düsternis als vom Orchester des Hauses perfekt umgesetzt, erklang das dramatische Blech in voller Wucht. Ein gewisser Hang zu Generalpausen war festzustellen, die aber der Spannung keinen Abbruch taten. Prachtvoll wieder der von Alberto Malazzi einstudierte Chor des Hauses in glanzvoller Intensität.
Für die Regie zeichnete der Katalane Lluís Pasqual verantwortlich, dessen konservative Inszenierung trotz einiger weniger glücklicher Einfälle im Ganzen überzeugte. Das waren beispielsweise die fünf gefolterten Ketzer, die in ein Loch geworfen wurden, aus dem zu Ende des 2. Akts dann ein paar Flämmchen züngelten; die aus dem Schnürboden herabgelassenen Prunkkleider des Königspaars oder Eboli, die im Nachthemd Filippo Elisabettas Kästchen überreicht und über diesem Schlafgewand das Kreuz trägt, das sie der Königin bei ihrer Verbannung vom Hof auszuhändigen hat). Unter Regiefehler wäre auch zu verzeichnen, dass Posa und Carlo im 1. Akt jeweils durch Gittertore die Bühne betreten, welche Tore dann von Mönchen versperrt werden, die Sänger aber seitlich abgehen. Doch überwiegen die positiven Seiten, etwa die Pantomime von zwei Liliputanerpaaren während Ebolis Schleierlied, der Auftritt von Mönchen mit Monstranz und viel Weihrauch gegen Ende der Szene Posa/Filippo, die zunächst freudige Reaktion Posas, als Don Carlo den Vater während des Autodafés herausfordert und ähnliche Detailarbeit. Das Bühnenbild von Daniel Bianco ist im Aufbau einheitlich, kann aber den verschiedenen Szenen gut angepasst werden, denn ein Zylinder wie aus Alabaster wird je nach Notwendigkeit gedreht, geöffnet oder geschlossen. Für das Autodafé ist in der Bühnenmitte ein goldprunkender Altar zu sehen, der Chor steht links und rechts davon. Während Filippos Monolog zeigt sich ein riesiges weißes Kreuz, das zur Szene mit dem Großinquisitor überleitet, als erdrückendes Symbol der Macht der Kirche, die auch dem weltlichen Herrscher keine Freiheit lässt. Pascal Mérat sorgt für eine raffinierte, die jeweiligen Situationen unterstreichende Lichtregie. Historisch informiert die Kostüme von Franca Squarciapino; wer für die ungünstigen Perücken der Damen verantwortlich war, entzieht sich meiner Kenntnis.
Jedenfalls ein orchestral und vokal bedeutender Abend, der von keinem Regieberserker ruiniert und vom vollen Haus mit Begeisterung gefeiert wurde.
Eva Pleus, 22. Dezember 2023
Don Carlo
Giuseppe Verdi
Teatro alla Scala
16. Dezember 2023 (vierte Vorstellung)
Inszenierung: Lluís Pasqual
Musikalische Leitung: Riccardo Chailly
Orchestra del Teatro alla Scala