Wenn Vincenzo Bellinis letztes Werk, in Paris 1835 mit den besten Belkantisten der damaligen Zeit (Giulia Grisi/Elvira, Antonio Tamburini/Riccardo, Luigi Lablache/Giorgio und Giovanni Battista Rubini/Arturo) uraufgeführt, trotz seiner Schönheiten und populären Nummern nicht öfter angesetzt wird, so liegt das vor allem an der Rolle des Arturo, die Bellini seinem Lieblingstenor in die Stimmbänder geschrieben hatte. Rubini verfügte über Höhen, die bis zum f‘‘‘ reichten, allerdings wurden diese mit Kopfstimme gesungen, woran sich nach der „Erfindung“ des do di petto (Brust-C) durch Gilbert Louis Duprez ein heutiges Publikum erst wieder gewöhnen müsste. Da offenbar weder Operndirektoren, noch Sänger ein Interesse daran haben, sich der Gefahr des Unverständnisses (= Buhs oder gar Pfiffe) seitens der Zuhörer auszusetzen, sind Tenöre gesucht, die extreme Höhen mit Bruststimme zu singen verstehen. Die sind bekanntlich mehr als dünn gesät (bei der Rekapitulation meiner „Puritani“-Aufführungen bin ich nur auf drei wirklich zufriedenstellende gekommen, nämlich der gloriose Gianni Raimondi, auf seine Art Juan Diego Flórez und, mit kleinen Einschränkungen, der ganz junge Marcelo Álvarez).
Um so neugieriger machte mich der Name eines jungen Russen, von dem viel Gutes erzählt wurde. Und Ruzil Gatin, 27, enttäuschte nicht. Seine Stimme besitzt ein weiches Timbre, das ihn von der „Weiße“ mancher seiner Fachkollegen unterscheidet, weshalb sie sich nicht auf Rossini beschränken muss, sondern für die große romantische Oper eben eines Bellini oder Donizetti bestens geeignet ist. Dazu gesellte sich große Expressivität, die auch in der insgesamt sehr hohen Tessitura des Arturo nie verloren ging und den Liebenden ebenso überzeugend interpretiert wie den mannhaften Retter Enrichettas, der für das Schafott bestimmten Königin. Die Rolle ist ja nicht sehr umfangreich (im 2. Akt tritt Arturo gar nicht auf), aber was der junge Mann zu singen hatte, und wie er es sang, das war höchst beeindruckend.
Die Primadonna braucht sich aber über dieses Loblied auf den Tenor nicht zu kränken, denn auch ihr gehört meine ungeteilte Zustimmung: Die Spanierin Ruth Iniesta, die ich schon als Liù und Micaela gehört hatte, hat mich erstmals völlig überzeugt, denn das Belcantofach scheint ihr am besten zu liegen. Mit überaus sauberer Technik führte sie ihren hell und klar timbrierten Sopran durch die schwierige Rolle der Elvira und verlieh ihren Koloraturausbrüchen den ganzen Schmerz des ob des vermeintlichen Verrats ihres Verlobten wahnsinnig gewordenen Mädchens und beeindruckte auch mit ihrer schauspielerischen Leistung, besonders im 3. Akt, als Elvira sich nur langsam wieder mit ihrem Glück und de Normalität vertraut macht. Sehr erfreulich war auch die Leistung des Basses Luca Tittoto als Elviras väterlicher Freund und Beschützer Sir Giorgio, dessen weicher Stimmführung man in jedem Augenblick die Sorge um die ihm Anvertraute und die aufrichtige Liebe zu ihr abnahm. Der Bariton von Alessandro Luongo als verschmähter Liebhaber Riccardo ist von eher trockener Qualität, aber er sang technisch sauber und spielte Schmerz und verletzten Stolz sehr gut aus. In der undankbaren Rolle der Enrichetta fiel Nozomi Kato mit schöntimbriertem Mezzo auf. Andrea Pellegrini und Matteo Macchioni gestalteten Lord Gualtiero und Sir Bruno rollendeckend. Der Coro Lirico di Modena unter Giovanni Farina sang und spielte mit großer Lebhaftigkeit. Leider war Alessandro d’Agostini am Pult der Filarmonica del Teatro Comunale di Modena alles andere als ein inspirierender Dirigent, sondern ließ es immer wieder zu Ungenauigkeiten und Lärmentwicklung kommen, was ihm beim Schlussapplaus berechtigte Buhrufe eintrug.
Die Praktiker unter den weniger bekannten italienischen Regisseuren scheinen sich ein neues, durchaus nicht störendes, Konzept zurechtgelegt zu haben: Statt historisch inspirierter Kulissen gibt es allgemein gehaltene Bühnenbilder (hier von Rinaldo Rinaldi und Maria Grazia Cervetti) in Form von leicht verschiebbaren Tafeln, die der jeweiligen Situation entsprechende Details aufzeigen können und ihre Wirkung auch der Beleuchtung (hier Andrea Ricci) verdanken. In diesem Rahmen bewegten sich die von Francesco Esposito geführten Rollenträger in den sehr ansprechenden Kostümen desselben Künstlers. Seltsame, rotgewandete Damen, hinter deren Schleiern sich vermutlich Parzen befanden, hinzunehmen, dazu war man in solch unaufgeregtem Ambiente gern bereit.
Es gab, mit Ausnahme des Dirigenten, großen Jubel für diese im Rahmen des neugegründeten
Belcantofestivals Modena erfolgte Produktion (die zweite Hälfte des Duetts von Bariton und Bass „Suoni la tromba“ musste gar wiederholt werden).
Eva Pleus, 20. Mai 2024
I Puritani
Vincenzo Bellini
Teatro Comunale Pavarotti-Freni Modena
12. Mai 2024
Inszenierung: Francesco Esposito
Musikalische Leitung: Alessandro d’Agostini
Filarmonica del Teatro Comunale di Modena