Bergamo: „Enrico di Borgogna“

Ausflug ins Raritäten-Kabinett 2

Premiere: 23.11.2018
besuchte Vorstellung: 25.11.2018

Lieber Opernfreund-Freund,

gerade gestern berichte ich Ihnen noch von den immer traditionell inszenierten Donizetti-Ausgrabungen beim jährlich stattfindenden Festival Donizetti Opera in Bergamo, da werde ich einen Tag später gleich doppelt überrascht: Zum einen dreht das Produktionsteam um Silvia Paoli den Historienschinken um Heinrich von Burgund – bei Donizetti natürlich ein italienisierter Enrico di Borgogna – komplett auf links und macht daraus eine Komödie und zum zweiten gelingt der Coup dermaßen großartig, dass zusammen mit dem spielfreudigen Team auf der Bühne ein perfektes Opernerlebnis entsteht.

Enrico di Borgogna ist Donizettis zweite Oper, sie wurde 1818 komponiert und ist die erste, die zu Lebzeiten des Komponisten gezeigt wurde, denn sein zwei Jahre früher entstandener Pigmalione gelangte erst 1960 zur Uraufführung. Enrico di Borgogna ist nach seiner Erstaufführung relativ bald in der Versenkung verschwunden, bis die Oper nach 192 Jahren erstmals in Schweden wieder aufgeführt wurde, denn das Werk hat ein Problem: der historisch-dramatische, recht trockene und natürlich ernsthafte Stoff wird seinerzeit vom kaum 20jährigen Donizetti in eine überschwängliche Partitur gegossen, die zwar vor Originalität sprüht, die hinreißende Melodien mitbringt und schon das Genie des Bergamasker Komponisten erahnen lässt, der aber über weite Teile Tiefgang fehlt. Genau das macht sich die Regisseurin Silvia Paoli zu Nutze und hüllt die Story um den als Kind von Getreuen seines Vaters in Sicherheit gebrachten Heinrich, der nichts von seiner Herkunft ahnt, in das Gewand einer Komödie. Von der während der bespielten Ouvertüre gezeigten Begebenheit, die zur weiblichen Besetzung der Titelfigur führt, über die auf der drehbaren, von Andrea Belli gezimmerten klassischen Guckkastenbühne mit nahezu historischen Mitteln gezeigten Irrungen und Wirrungen der Geschichte, während der Enrico die angebetete Elisa aus den Fängen des Nebenbuhlers Guido rettet, bis hin zu den teils wahnwitzigen, aber immer gelungenen Kostümen von Valeria Donata Bettella entspinnen sich unterhaltsam-witzige, teils brüllend komische, nie langweilige zweieinhalb Stunden. Das Regieteam erkennt selbst, dass alle Mittel nichts helfen, dem zweiten Akt seine Längen zu nehmen – und persifliert schließlich auch das, indem zum Ende des Aktes alle Protagonisten außer der Titelfigur, die partout nicht aufhören will zu singen, nach und nach die Kostüme ablegen und entnervt die Bühne verlassen. Genial! Selten hat mich die Umdeutung eines Stoffes so überzeugt!

Zum Gelingen tragen natürlich auch das blendend aufgelegte Ensemble einen nicht unerheblichen Beitrag. Anna Bonitatibus in der Titelrolle begeistert mich mit feinen Piani und tollem Spiel, Sonia Ganassi zeigt sich als Vollblutkünstlerin und zieht nicht nur stimmlich alle Register, sondern ist eine herrlich überdrehte Elisa voller Bühnenpräsenz. Francesco Castoro als Enricos Ziehvater Pietro verfügt über einen gefühlvollen, farbenreichen Tenor und Luca Tittotos Gilberto allein ist die Eintrittkarte schon wert, über solche Qualitäten als Buffo, über solch großes komödiantisches Talent verfügt der aus Italien stammende Bass. Gestern noch hatte ich Federica Vitali eine größere Rolle gewünscht, als sie sie in Il Castello di Kenilworth bekleiden darf – und schon heute geht mein Wunsch in Erfüllung und die junge Sopranistin aus Busto Arsizio darf als Geltrude viel von ihrer wunderschönen Stimme und darüber hinaus ihr Gespür für komödiantisches Timing zeigen.

Um nicht vollkommen in Lobhudelei zu verfallen, muss ich anmerken, dass Levy Sekgapanes Guido mir trotz brillanter Höhe oft zu gequält klingt, während Lorenzo Barbieri seinem klangschönen Bariton noch ein wenig Zeit geben muss, sich aber als Brunone schon wacker schlägt. Das alles aber macht die umwerfende und ansteckende Spielfreude des kompletten Ensembles inklusive der voll beschäftigten und souverän agierenden Herren des Coro Donizetti Opera vergessen (Maestro del coro: Fabio Tartari). Im heute offen gehaltenen Graben zieht Alessandro De Marchi nicht nur alle Register, sondern auch mit der Regisseurin an einem Strang, präsentiert rasante Tempi, schillernde Farben und musikalischen Witz, spornt die Academia Montis Regalis zu Höchstleistungen an und holt so alles aus Donizettis Partitur heraus, die hier in einer kritischen Überarbeitung von Anders Wiklund erklingt.

Das Publikum ist schon während der Aufführung hörbar begeistert, die unterhaltsame Lesart Paolis gefällt und man bejubelt immer wieder besonders gelungene Szenen und Einfälle der Regie wie musikalische Bravourleistungen gleichermaßen. Es ist aber auch eine kurzweilige Umsetzung sondergleichen, die da in Kooperation mit der Fondazione Teatro La Fenice di Venezia entstanden ist. Das schürt meine Hoffnung, dass die Produktion nicht – wie Donizettis Oper – in der Versenkung verschwinden muss, sondern dass sie im nahen Venedig aufersteht – und dort vielleicht sogar auf DVD gebannt wird. Zu wünschen wäre es ihr – und Ihnen, lieber Opernfreund-Freund. So kann ich bisher nur Ihre Neugierde auf die Produktionen des Festivals 2019 richten: Neben der mittlerweile auf den internationalen Opernbühnen etablierten Lucrezia Borgia (1833), die in einer revidierten Fassung erklingt, kann man sich auf die Raritäten Pietro il Grande, kzar delle Russie (1819) und L’ange de Nisida, der Urfassung von La Favorite (1839) freuen.

Ihr Jochen Rüth 27.11.2018

Fotos @ Fondazione Donizetti