Bergamo: „Lucrezia Borgia“

Teatro Sociale – Aufführung am 22.11.19 (Premiere)

Mit diesem drei Jahre nach seinem endgültigen Durchbruch mit „Anna Bolena“ 1833 geschriebenen Werk hat Donizetti erstmals versucht, eigene Wege zu gehen, indem er beispielsweise die tragische Geschichte der Lucrezia, die unwissentlich ihren eigenen Sohn vergiftet, nicht mit einem großen Rondo für die Protagonistin enden ließ, sondern deren Schock mit relativ wenigen, diesen zum Ausdruck bringenden Phrasen auf die Bühne brachte. (Der als Vielschreiber verrufene Komponist setzte ja sehr oft zu Neuerungen an, aber die Umstände führten immer wieder dazu, dass er weitermachen musste und nicht all seine Einfälle vertiefen konnte). So widerfuhren auch diesem Werk wiederholt Anpassungen, auch Hinzufügungen durch die Hand von Primadonnen. Nun wurde die kritische Ausgabe von Roger Parker und Rosie Ward gegeben, die auch die vom Komponisten für die Aufführungen 1840 am Pariser Théâtre Italien vorgenommenen Änderungen enthält und bei Casa Ricordi in Mailand realisiert, aber faktisch und finanziell auch von der Gemeinde Bergamo und der Fondazione Teatro Donizetti unterstützt wurde.

Das auf dem Drama von Victor Hugo basierende Libretto von Felice Romani ist eine kluge Komprimierung des 5-aktigen Werks. Dass sich Hugo lange gegen eine Vertonung gesträubt hat, wird auch deshalb verständlich, weil bei dem französischen Dichter Lucrezias Sohn Gennaro seine Mutter ersticht und erst durch ihre letzten Worte erfährt, wer sie ist, während bei Romani Lucrezia ihren Sohn, den sie auf dem Weg von Ferrara nach Venedig glaubt, zusammen mit seinen Kameraden, die sie beschimpften, vergiftet. (Es gäbe übrigens auch das berühmte Borgia-Gegengift, aber da es nur für ihn reichen würde, weigert sich Gennaro, es zu nehmen, weil er mit seinen Kumpanen sterben will).

Diese Story aus einer Epoche besonders düsterer Verkommenheit des Papsttums wurde von dem jungen Regisseur Andrea Bernard überzeugend in Szene gesetzt. Lucrezia wird als Mutter gezeigt, der ihr Sohn schon im Säuglingsalter entrissen wurde, wobei offen bleibt, ob auf Befehl ihres Vaters Alexander VI. oder ihres Bruders Cesare Borgia, der vielleicht der Kindesvater war. Die Szenen mit einer Wiege und Lucrezias Hingabe an den Winzling sprechen eine klare Sprache. Immer wieder taucht die Erscheinung des Pontifex maximus auf, um uns an Lucrezias Herkunft zu erinnern. Nicht so deutlich erschließt sich die wiederholte Präsenz eines halbnackten, blutverschmierten Mannes, weil nicht deutlich wird, ob er physische oder psychische Martern symbolisieren soll. Sehr gelungen sind die durchwegs dunklen Kostüm der Interpreten, mit Ausnahme Lucrezias, die das historische Gelb der Borgia trägt (Elena Beccaro). Das dunkle, trostlose Ambiente von Ferrara, wohin es Lucrezia verschlagen hatte, als sie Alfonso d’Este zu ihrem vierten Gemahl nahm, wurde durch die graue, bedrückende Bühne von Alberto Beltrame bestens charakterisiert, unterstützt durch die Lichtregie von Marco Alba.

Vorzüglich war die musikalische Umsetzung mit Riccardo Frizza an der Spitze des Orchestra Giovanile Luigi Cherubini, die bestätigte, dass sich seit der Übernahme vor drei Jahren der künstlerischen Leitung des Festivals durch Francesco Micheli hinsichtlich der Qualität der Aufführungen viel zum Positiven hin verändert hat. Die Titelrolle gab Carmela Remigio, eine sehr aktive Sängerin sowohl hinsichtlich der Zahl ihrer Auftritte, als auch der Rollenvielfalt. Dies hat dazu geführt, dass ihr an sich schon nicht sehr charakteristisch timbrierter Sopran nicht mehr besonders saftig klingt, doch ist sie technisch gefestigt und in der Interpretation sehr präsent. Damit entsteht eine überzeugende Figur vor uns, die weniger klagend als sonst oft üblich auftritt, sondern auch stolze, unbeugsame Seiten zeigt. Dies besonders in der großen Auseinandersetzung mit Alfonso, der Gennaro für ihren Liebhaber hält. Alfonso wurde von dem kroatischen Bassbariton Marko Mimica gesungen. Der Künstler hat eine starke Ausstrahlung und verlieh seiner Gestalt die nötigen zynischen wie grausamen Züge. Stimmlich hätte man sich eine etwas „bassigere“ Farbe gewünscht, was der Sänger aber durch ausgezeichnete Deklamation wettmachte. Der Baske Xabier Anduaga, im Vorjahr die Tenorentdeckung des Festivals, bestätigte seine stimmlichen Qualitäten, die auf eine wohlüberlegte Weiterentwicklung hoffen lassen, und überzeugte auch schauspielerisch als trotzig-draufgängerischer junger Mann. Sehr schön gestaltete die franko-armenische Mezzosopranistin Varduhi Abrahamyan Gennaros Busenfreund Maffio Orsini – es war eine Lust dieser vollen, stilsicher geführten Stimme zu lauschen. Als Astolfo und Rustighello, von Lucrezia bzw. Alfonso beauftragte Spione, hatten Federico Benetti und Edoardo Milletti einen an die Narren Shakespeares gemahnenden heiteren Auftritt, wobei sich Benetti (Bariton) besser aus der Affaire zog als Milletti (Tenor). Rocco Cavalluzzi als Gubetta, nur scheinbarer Freund der Gruppe um Gennaro, sei stellvertretend für alle gut ausgewählten Vertreter der kleineren Rollen genannt. Der Chor des Teatro Municipale di Piacenza (zusammen mit den Häusern in Reggio Emilia, Ravenna und Triest Koproduzent) erwies sich in der Einstudierung durch Corrado Casati neuerlich als ausgezeichnet.

Zwei hervorragende Produktionen des Festivals, die mich bedauern ließen, dass ich aus Termingründen den dritten Titel des Programms, Donizettis erst zweite Oper „Pietro il Grande, zar di tutte le Russie“ nicht sehen konnte.

Eva Pleus 23.12.19