NI am 30. und 31. Januar 2020
Parsifal als Erlöser von Religionskonflikten?!
Palermo spielte eine große Rolle am Ende des Lebens Richard Wagners, ein wie Goethe begeisterter Italien-Reisender. Denn hierher machte er seine letzte große Reise – abgesehen von seinem Winterdomozil im Palazzo Vendramino am Canale Grande in Venedig – wo er dann im Februar 1883 auch verstarb. Den Winter davor verbrachten er und Cosima in der sizilianischen Hauptstadt mit ihren vielen Sehenswürdigkeiten, deren Bewunderung durch den Komponisten Cosima in ihren Tagebüchern minutiös festgehalten hat. Und hier beendete er sein Weltabschiedswerk „Parsifal“ am 13. Januar 1882. In ihrem Tagebuch vermerkt Cosima, dass am heutigen Tage der „Parsifal“ abgeschlossen wurde und Richard noch bei Mittagstisch gesagt hatte, er fürchte sich, von der Fertigstellung durch den Tod abgehalten zu werden. „Ich konnte einfach nicht loslassen“ meinte er auch deshalb. Nur zwei Tage darauf fertigte Auguste Renoir eine Bleistift-Zeichnung als Grundlage für seien berühmtes Ölgemälde aus den Tagen in Palermo an. Am 28. März 1882 hatte der Komponist einen schweren Herzanfall und die Familie verließ Sizilien mit Richtung Neapel Anfang April.
In Palermo logierte man in einer Drei-Zimmer-Flucht des eleganten – wie sollte es bei Wagners anders sein – Hotel Grand Palme in der Via Roma. Heute befindet es sich in einer Totalrenovierung. Der uniformierte Wachmann konnte mir nicht einmal sagen, ob man noch 2020 oder erst in der ersten Hälfte (sic!) 2021 fertig sein würde. Gern hätte ich mir das näher angesehen – das Zimmer, in der Wagner die letzten Takte des „Parsifal“ komponierte, das Beste, was er nach meinem Dafürhalten je geschrieben hat…
Zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt, die Wagner ausgiebig sah und studierte, gehören natürlich das Castello della Zisa, Monreale, der Palazzo Reale mit der Porta Nuova („Normannenpalast“, heute Regierungspalast von Sizilien, wo man von Dienstag bis Donnerstag (!) tagt, an den anderen können die Touristen rein), mit der vor „Staunen stumm“ machenden Capella Palatina, die nahegelegene Chiesa di San Giovanni degli Eremiti, Seite an Seite mit einer Moschee, sowie die Chiesa Santa Maria dell’Ammiraglio, kurz auch „La Martorana“ genannt, ebenfalls ein Juwel mittelalterlicher Baukunst (1143) mit überbordenden vielfarbigen, aber in erster Linie Gold-Mosaiken. Später erfuhr ich, dass Wagner sich neben dem Garten von Amalfi auch vom Garten der Eremiti zu Klingsors Zaubergarten animieren ließ. Ohne das zu wissen, hatte ich sofort das Gefühl, dass es so sein müsse. Gerade bei dezenter Beleuchtung am Abend strahlt dieser Garten – mit einer nicht aus der Ruhe zu bringenden schwarzen Katze als Wächterin – wahrlich mystischen Zauber aus.
Der Leser möge mir verzeihen, dass ich auf all das relativ ausführlich eingehe. Aber wenn man auf den letzten Spuren des Bayreuther Meisters in einem solchen Ambiente wandelt, in dem so Einzigartiges aus seinen Gedanken und seiner Feder entstanden ist, Maßgebliches für die Entwicklung der klassischen Musik und wohl der Musik schlechthin nach ihm, dann kann man einfach nicht anders… Sorry!
Nun aber zur Neuinszenierung des „Parsifal“ durch den Briten Graham Vick. Diese fand – in einer Koproduktion mit dem Teatro Comunale di Bologna – im zwar mittlerweile auch schon altehrwürdigen Teatro Massimo Vittorio Emanuele di Palermo statt, das es aber zu Wagners Zeiten noch nicht gab. Es ist der drittgrößte und einer der schönsten Theaterbauten Italiens, 1897 eröffnet, 1974 für nicht nur bautechnisch bedingte 23 Jahre (!) viel zu lange wegen Renovierungsarbeiten geschlossen und von Claudio Abbado mit den Berliner Philharmonikern 1997 feierlich wiedereröffnet. Noch heute sieht man Flecken und Farbverluste an vielen Deckenmalereien. Das Haus hat eine Sitzplatzkapazität von 1.250 und damit weiter weniger als oft behauptet wird, zumal es auch keine Stehplätze gibt. Der Saal prunkt in Gold und tiefroten Farbtönen. Von Größe (sechs Ränge, natürlich im Hufeisenformat) und Stil her erinnerte es mich sofort an die Scala di Milano, das Teatro San Carlo in Neapel und das Teatro dell’Opera in Rom, neben kleineren Bühnen in Italien und Frankreich in diesem Stil.
In totalem Kontrast zur Ästhetik dieses Theaterraumes – aber das soll ja im Prinzip nichts miteinander zu tun haben, obwohl ich doch sagen möchte, dass es gerade an diesen beiden Abenden so schockierte – erlebte ich einen thematisch und vor allem optisch völlig anders gelagerten „Parsifal“ als die beiden zuvor in Straßburg und Toulouse (siehe Rezensionen weiter unten). Von Graham Vick als Künstlerischem Direktor der Birmingham Opera Company kennt man ja seine Verliebtheit in zeitgenössische und sozialorientierte Interpretationen. An Mystik wie bei Bory in Toulouse oder metaphysische Gedanken zur Einheit von Natur und Mensch in göttlichem Kontext bei Miyamoto in Straßburg war also gar nicht zu denken. Schon vor Beginn blickt man in Timothy O’Brien s minimalem Bühnenbild – wenn man überhaupt von einem solchen sprechen kann und will eine profane rechteckige Pressspan-Platte als Spielfläche mit einem knorrigen alten Baum bis nach hinten auf die 123 Jahre alte Brandmauer, Feuerlöscher und allerlei Gerümpel inklusive. Der obere Teil der Mauer erinnert mit seinen großen Quadern an die Klagemauer in Jerusalem. Ab und zu taucht überraschend – oder eben auch nicht, ganz wie man will – ein geschäftiger Bühnenarbeiter auf… Ein immer wieder mal hochgezogener grauer bis bunter Prospekt (Karfreitagszauber) vermag dennoch manchen Szenen auch optisch Sinn zu verleihen.
Kurioserweise – nach heutigen Inszenierungsusancen – geht zu Beginn des Vorspiels erst mal der Vorgang runter. Was dann kommt, ist zunächst kaum verständlich: Eine Truppe von US-amerikanischen GIs mit MGs im Anschlag kommt als Gralsritter und später gesamter Chor, während Amfortas im purpurnen Königsumhang, nur mit Lendenschurz bekleidet, schwerst leidend und aus der Wunde blutend mit Dornenkrone durch ihre Reihen robbt. Für die ungewohnten Kostüme – Parsifal dabei barfuß in banaler Straßenkleidung – zeichnete Mauro Tinti verantwortlich. Die Gralserhebung – in einer weißen Kaffeetasse, die er aus dem Boden in einem Sackerl hervorkramt (!), wird zu einer Szene blutiger Selbstverstümmelung. Denn nach dem Genuss des Blutes ritzen sich alle GIs alias „Ritter“ die Arme und manche auch beseelt die Stirn auf… Manche kommen mit den Druckverhältnissen im Blutschlauch auf den Messern nicht klar und bleiben (fast) trocken… Dass Titurel trotz seiner generalstabsmäßigen Ordens-Staffage auf der Brust in einem simplen grauen Business-Anzug aufkreuzt, bleibt ebenso kurios. Man hatte den Eindruck, es sollte von allem – sozusagen auf „Teufel komm‘ raus“ – etwas sein… Giuseppe Di Iorio war zwar für das Licht zuständig, hatte aber in dieser Hinsicht fast nichts zu tun.
Auch später werden immer wieder Gewalttaten bis hin zu Morden im Namen der Religion – irgendeiner – gezeigt. Dann aber sehr eindrucksvoll: Diese Szenen sind als beeindruckendes Schattenspiel hinter einem langen Vorhang zu sehen, der nach Belieben von den Akteuren auf- und zugezogen wird – Bert Brecht hat den wohl erfunden – während der beiden langen Verwandlungsmusiken im 1. und 3. Aufzug auf dem Weg zum Vickschen „Gralstempel“.
Es geht ihm ganz offenbar darum zu zeigen, dass auch bei einem „erleuchteten Papst“, wie er sagt, („papa illuminato“), wie dem gegenwärtigen Franziskus, der bekanntlich religiöse Intoleranz verdammt, Zwistigkeiten bis Feindschaften zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland, zwischen Schiiten und Sunniten, zwischen Christen und Moslems et al. weiterbestehen, ganz abgesehen vom fortwährenden Antisemitismus. Man könnte die Reihe lange fortführen, erst recht, wenn man sich etwas vom rein Religiösen löst. Der Regisseur will den Finger heben gegen das – wie er in einer äußerst kurzen Regienotiz im Programmheft sagt – weitergehende „usare la religione per asserire il nostro tribalismo“, also das Weiterbetreiben eines Stammesdenkens mit Hilfe der Religion. In diesem Sinne, meint Graham Vick, hatten wir einen Parsifal noch nie so nötig gehabt wie jetzt. Und er hofft, dass er bald kommt.
Auf all das kommt man allerdings nicht gleich, wenn man die Inszenierung erlebt, was ja des Öfteren zu sehen bzw. nicht zu sehen ist, wenn stimmige und ernsthafte Gedanken sich nicht recht abbilden lassen in der dramaturgischen Umsetzung. Peter Konwitschny lässt grüßen.
So ist nur mit einiger Fantasie nachzuvollziehen, dass bei Klingsors Ruf nach seinen Rittern im 2. Aufzug die GIs, nun austauschbar bei ihm wie in einer Fremdenlegion im Dienst, halbnackt über die Bühne huschen, natürlich in den nicht nur von Vick auf den heutigen Theater- und Opernbühnen so begehrten weißen Unterhosen. Denn sie haben es offenbar gerade noch mit den Blumenmädchen getrieben. Dabei begann der 2. Aufzug denkbar spartanisch: Auf einem alten Bühnenstuhl sitzt Klingsor oben ohne mit dem Rücken zum Publikum, stark an einer Havanna rauchend, am Boden wie ein Hund die verhüllte Kundry, der Speer im Boden steckend auf der anderen Seite. Natürlich muss auch er bald die Hose runterlassen, denn man soll ja den Blutfleck an der Stelle sehen, wo er sich – offenbar erst kurz zuvor – entmannt hat, wohl ein Zeitraffer. Dass er dann fast den gesamten Rest seines Auftritts mit der Hose am Boden herumstraucheln muss, trägt nicht unbedingt zur Ernsthaftigkeit dieser doch bösen Figur bei, wie sie sich in der Musik abbildet, aber optisch wohl nicht zeigen darf… Bei Vera Nemirovas „Rheingold“ in Frankfurt/Main muss auch der Alberich mit runtergelassener Hose agieren. Scheinbar wird auch das nun langsam zu einem – allerdings ebenso fantasielosen wie unpassenden – postmodernen Stereotyp…
Dann einmal mehr ein Gruß an den Islam, denn kaum sind die Zaubermädchen verführerisch gekleidet aufgekreuzt, vermummen sich die meisten auch schon wieder im schwarzen Tschador, ein immer wieder gern gewählter Topos (z.B. Mielitz in Wien, Laufenberg in Bayreuth et al.) einer allerdings auch viel sublimer möglichen Referenz an den Islam in Wagners Bühnenweihfestspiel. Die Choreografie der tanzenden Mädchen ist jedoch sehr einfallsreich und dynamisch, attraktiv bis sexy auch ihre sommerlichen Kostüme. Beim Dialog zwischen Kundry und Parsifal steigt vorn eine riesige goldene Ikone auf, sicher eine Referenz an die beiden oben genannten Kirchen, die das Bildnis der Maria Magdalena zeigt (also Kundry!) und auch eine akustische Unterstützung bietet, die den Sängern bei Vick in dieser Produktion meist nicht zuteilwurde. Im Gegenzug zur Charakterisierung Kundrys als M. Magdalena kann man wohl Parsifals ostentative Geste des Erlösers am Kreuz genau bei ihrem „Und lachte!“ interpretieren – eine durchaus interessante Idee! Eindrucksvoll und mit einer gewissen Dynamik gelingt auch die „Speerübergabe“, indem Klingsor die Waffe schnell über drei Schergen reichen lässt und der letzte vor Parsifals Macht erstarrt, der ihn dann ruhig entgegen nimmt.
Am Ende siegt bei Vick natürlich die Menschlichkeit. Amfortas, der sich wie bei Mielitz in Wien schon in den Sarg seines vermummten herausgefallenen Vaters gesetzt hatte, wird völlig vom Speer geheilt. Sodann sehen wir die Verbindung der Zaubermädchen mit den wenigen noch überlebenden Soldaten und eine Gruppe lustiger Kinder, die durch den Karfreitagszauber wieder zum Leben erweckt wurden und nun im Finale von Parsifal humorvoll unterhalten werden… Im Sackerl war keine Tasse mehr drin – das Leben geht weiter, auch ohne Gral und mit der Jugend!
Im Sängerenseble ragen Tómas Tómasson als Amfortas und John Relyea als Gurnemanz heraus. Tómasson brilliert stimmlich und darstellerisch mit einem beeindruckenden Bassbariton bei guter Diktion und Resonanz. Relyea besticht den ganzen Abend über mit seinem unermüdlichen, tiefen und äußerst klangvollen Bass. Beiden ist hoch anzurechnen, dass sie ihre Rollen gleich am Tag darauf mit derselben Qualität sangen. Leider kann Catherine Hunold als Kundry nicht auf diesem Niveau mithalten. Sie hat zwar ein recht schönes, eher lyrisch betontes Timbre, kommt aber in den dramatischen Höhen des 2. Aufzugs schnell an ihre Grenzen, die bisweilen schrill klingen. Konsequenterweise singt sie die letzte Phrase „…dich weih‘ ich ihm zum Geleit‘!“ um eine ganze Oktave tiefer! Erotische Ausstrahlung geht von Hunold auch nicht aus. Julian Hubbard bleibt als Parsifal auch hinter wahrscheinlich nicht nur meinen Erwartungen zurück. Das Timbre ist allzu baritonal gefärbt mit wenig tenoralem Glanz und nicht großer Resonanz. Auch bei Hubbard klingen manche Höhen scharf. Darstellerisch macht er seine Sache jedoch sehr gut. Thomas Gazheli ist ein prägnanter, aber etwas wortundeutlicher und bisweilen „bellender“ Klingsor mit übertriebener Mimik. Eine stärkere sängerische Betonung hätte seinem vokalen Vortrag gut getan. Auch er lässt schauspielerisch trotz der entbehrlichen Hosenbehinderung seine große Rollen-Erfahrung erkennen. Alexei Tanovitski singt einen guten Titurel als abgehalfterter General. Die Gralsritter Adrian Dwyer und Dmitry Grigoriev sowie die Knappen und Zaubermädchen und die Stimme aus der Höhe singen auf ansprechendem bis gutem Niveau.
Bei dem hochsitzenden Orchestra del Teatro Massimo unter der Leitung seines jungen und erst kürzlich bestellten GMD Omer Meir Wellber klang Wagners Musik viel plastischer und monumentaler als in Straßburg und Toulouse. Musikalisch war der Abend auch mit dem von Ciro Visco einstudierten Coro del Teatro Massimo und dem von Salvatore Punturo geleiteten Coro di voci bianche del Teatro Massimo ein Erlebnis. Der Dirigent bekam mit seinen Musikern vor dem 2. und 3. Aufzug völlig zu Recht starken Auftrittsapplaus und zusammen mit Tómasson und Relyea auch den meisten am Schluss.
Fotos: Franco Lannino und Roselinna Garbo
Klaus Billand/20.3.2020