Neapel: „Adriana Lecouvreur“

Das altehrwürdige Teatro di San Carlo wurde 1735 von den Architekten Giovanni Antonio Medrano (1703-60) und Angelo Carasale (gest. 1742) für den Bourbonenkönig Karl VII. von Neapel entworfen. Mit 3300 Plätzen war es jahrelang das größte Opernhaus und, noch vor der Mailänder Scala, das angesehenste Theater in Europa und der Welt und wurde allein schon wegen seiner Architektur und seiner reichen Einrichtung bewundert. Die stagione 2016/2017 wurde mit der Wiederaufnahme von „Adriana Lecouvreur“ aus Anlass des 150. Geburtstages von Francesco Cilea (1866–1950) eröffnet und ist gleichzeitig der Erinnerung an die letzte große Interpretin der Hauptrolle im Jahr 2003, Daniela Dessi (1957-2016), gewidmet. Der israelische Dirigent Daniel Oren kehrte ebenfalls ans Teatro Massimo, wo er sein Debüt 1980 gemacht hatte und dessen musikalischer Leiter er ab Mitte der 80ger Jahre wurde, zurück und leitete das Orchester und den Chor desselben routiniert, konnte sich allerdings nicht darauf festlegen, seine „Kippa“ während der gesamten Aufführungsdauer zu tragen, sondern lediglich während der Akte 1 und 3 sowie beim Schlussapplaus. Die „Adriana“ hatte er bereits 1992 im Teatro di San Carlo erstmals dirigiert. Und wie gewohnt gelang es ihm auch dieses Mal eine stimmige Balance zwischen Orchestergraben und Bühne zu erreichen, und das Orchestervolumen nie Gefahr lief, die Stimmen der Sänger zu übersteigen. Die für Cilea typischen „Leitmotive“ charakterisieren die jeweiligen Akte bzw Intermezzi, so etwa zu Beginn des vierten Aktes das „Rheingold-Motiv“, das der Komponist als ein Symbol für die Vergänglichkeit der Liebe und des Lebens zitiert.

Im Teatro di San Carlo di Napoli werden während der Vorstellung zweisprachige Übertitel in Italienisch und in Englisch gezeigt, was das Textverständnis erleichtert. Die historische Inszenierung von 2003 stammte von Lorenzo Mariani, die historisierenden Bühnenbilder und Kostüme entwarfen Nicola Rubertelli und Giusi Giustino. Von Michele Merola stammte die neoklassische Choreographie zum „Urteil des Paris“ und Claudio Schmid leuchtete die Szene noch sensibel aus, indem er das Scheinwerferlicht auf die sterbende Adriana langsam ausblenden ließ. Diese historisierende Ausstattung beschwört das beginnende 18. Jhd. also jene Zeit, in der die damals erfolgreichste französische Schauspielerin Adrienne Couvreur (1692-1730), genannt Lecouvreur, durch ihre Liaison mit Moritz von Sachsen zur Rivalin der Herzogin von Bouillon wurde.

Lorenzo Mariani führt dem Publikum zunächst das bunte Treiben in einem Raum der Comédie-Française als Genrebild vor. Regisseur Michonnet wird darin gleich zu Beginn von den beiden Schauspielerinnen Jovenot und Dangeville mit Wünschen überhäuft. Alessandro Corbelli gelang es den heimlich in Adriana verliebten Michonnet zu einer bemitleidenswerten Figur zu gestalten. Seine verzweifelte Tirade „Michonnet su! Michonnet giù! Auff! Non ne posso più…“ hat ihren unverkennbaren Ursprung wohl in der berühmten Cavatine „… Figaro su, Figaro giù…“ in Rossinis „Il barbiere di Siviglia“. Mit seinem eindringlichen Bariton konnte Corbelli mehrmals verdienten Szenenapplaus für sich lukrieren. Die höfische Welt des Intrigenspiels und der Verstellung wurde von Luciana d’Intino mit durchdringendem, fallweise scharfem Mezzosopran, in der Rolle der eifersüchtigen Ehebrecherin und Giftmischerin, der Fürstin von Bouillon, widergespiegelt.

Diese wurde in jungen Jahren an den alten Fürsten von Bouillon verheiratet, den sie nicht liebt. Nach der Auffassung der Sängerin ist die Fürstin „treulos, weil amoralisch, nicht aber unmoralisch“. Ihre Gegenspielerin Adriana Lecouvreur wiederum repräsentiert die Welt der Bühne mit ihren überhöhten Gefühlen und künstlichem Schein und war an diesem Abend mit Barbara Frittoli, die kurzfristig für Anna Pirozzi eingesprungen war, hochkarätig besetzt. Sie ließ weder stimmlich noch durch ihr ausdrucksstarkes Spiel irgendwelche Wünsche an ihre Interpretation der tragisch Liebenden und im Alter von nur 38 Jahren allzu früh verstorbenen Künstlerin offen, wobei sie den veristischen Ausdruck auf die rezitativen Passagen, deren Höhepunkt der eindrucksvolle Monolog der Phädra bildete, verlegte und die gesungenen Passagen mit sattem Volumen und dramatischen Farben ausstaffierte. Zwischen diesen beiden starken Frauen hatte es der stimmlich schwächelnde argentinische Tenor Gustavo Porta als charakterschwacher Maurizio, Herzog von Sachsen. Auch er fungierte lediglich als Einspringer für Marcello Giordani und Fabio Sartori, die diese Rolle ursprünglich hätten singen sollen. Gesanglich wie darstellerisch war Porta am stärksten in der Schlussszene als Adriana in seinen Armen stirbt. Hier konnte er seine eher raue Stimme auch etwas mit Leuchtkraft ausstatten. Im Übrigen hörte sich seine Stimme eher kraftlos an und ließ auch jegliche Eleganz vermissen. Umso mehr gefiel Carlo Striuli in der Rolle des gehörnten umtriebigen Fürsten von Bouillon, der mehr an den Künstlerinnen als an ihrer Kunst interessiert ist. In der Rolle des lüsternen und intriganten Abbé von Chazeuil war Luca Casalin recht aufdringlich und polternd, wodurch das Abbild eines allzu weltlichen Vertreters des Klerus ins Lächerliche und geradezu Groteske verzerrt wird. Rollengerecht wirkten noch Paolo Orecchia als Quinault, Stefano Consolini als Poisson, Elena Borin als Mlle Jouvenot und Milena Josipovic als Mlle Dangeville, mit. Den Haushofmeister des Fürsten unterlegte Luigi Strazzullo noch mit seinem wohl timbrierten Tenor.

Marco Faelli hatte den Chor des Teatro di San Carlo für diese Eröffnungspremiere bestens einstudiert. Nicht unerwähnt soll der „Corpo di Ballo“ bleiben. Zu Cileas schwelgerischer Musik tanzten als Solisten Claudia d’Antonio / Juno, Martina Affaticato / Minerva, Annachiara Amirante / Venus, Alessandro Staiano / Paris und Gianluca Nunziata / Merkur sowie 12 namentlich genannte Damen und Herren des Ballettensembles.

Das Theater war leider nur zu etwa 70% ausgelastet, zahlreiche leere Plätze im Parkett und in den Logen stimmten mich eher traurig, obwohl die Preise der Karten im Vergleich mit der Wiener Staatsoper in Neapel wesentlich niedriger sind. Wird denn die Oper, wie ich sie liebe, bald zu einer musealen Kunstgattung verkommen? Hoffentlich nicht, denn das anwesende Publikum spendete allen Künstlern reichlich Applaus, gewürzt mit begeisterten „Bravo-Rufen“.

Harald Lacina, 19.10.16

Bilder (c) Teatro di San Carlo