Premiere: 15.4.2018
Ohne reißerische Wirkungen
Poulencs Oper gehört zwar nicht zu den Repertoireaußenseitern, aber der momentan relativ rasche Produktionsausstoß (Gelsenkirchen im Januar, Krefeld/Mönchengladbach in der nächsten Saison) und jetzt Aachen ist schon ungewöhnlich.
Die 1957 an der Scala di Milano uraufgeführten „Dialogues des Carmélites“ (dieser Titel wurde zuletzt auch dem stoffliefernden Drama von Georges Bernanos gegeben) ist neben Puccinis „Suor Angelica“ und Pendereckis „Teufel von Loudon“ wohl das einzige Musikdrama, welches Nonnen in den Mittelpunkt stellt und damit eine nahezu ausschließlich weibliche Besetzung erfordert. Bei Poulenc gibt es freilich noch den Marquis de la Force und seinen Sohn. Beide sprechen sich gegen den Klosterentscheid Blanches aus. Später wird der Bruder versuchen, das Mädchen angesichts der politischen Umstände (Französische Revolution) zum Verlassen des Ordens zu bewegen. Daneben einige Chargenrollen. Das zentrale Geschehen bleibt jedoch auf Frauenfiguren beschränkt. Für den bekennenden Katholiken Poulenc bot diese Konstellation Gelegenheit, sein eigenes Glaubensideal zu theatralisieren und mit tragischen Zügen anzureichern. Seine Oper vermag noch immer nachhaltig zu erschüttern.
Der Komponist, in seinen jungen Jahren eigentlich so etwas wie ein „enfant terrible“, sucht in seinem Alterswerk die Tiefen von menschlichem Empfinden auf. Dabei erlaubt er sich – wir befinden uns wohlgemerkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – eine tonale Schreibweise auf modaler Basis, die nur gelegentlich dissonant zäsiert wird, wo es für die Handlung sinnvoll ist. Die sich emotional ungemein stark einbrennende Musik wird vom Sinfonieorchester Aachen unter Justus Thorau spannungsdicht und klangfarblich subtil realisiert.
Von den Sängern auf der Aachener Bühne ist der erweiterte Chor (Einstudierung: Elena Pierini) vorrangig zu nennen, die Damen zumal. Neben dem Singen ist die nuancierte Darstellung gerade in dieser Oper eine besondere Herausforderung. Bei der Einschwörung auf den Tod unter dem Fallbeil werden die Choristinnen zu Solisten; die Szene der Hinrichtung erfordert überdies besonderen mimischen Mut. Die optische Lösung des Finales ist nämlich ähnlich wie am Musiktheater im Revier. Die Sängerinnen stehen frontal und hell angeleuchtet an der Rampe. In Gelsenkirchen blies jede Delinquentin ihre Kerze aus und ging ab, in Aachen wird den Nonnen eine schwarze Kapuze übergestülpt, unter welcher sie zusammenbrechen. Ein schmerzhaftes Bild sondergleichen, welches einem Tränen in die Augen treibt. Das hätte in der Premiere eigentlich mehr Stille vor dem Schlussapplaus bewirken sollen.
Ute M. Engelhardt (nachhaltig gelobt für ihre Frankfurter Inszenierung von Janaceks „Schlauem Füchslein“) lässt spektakuläre Wirkungen beiseite, welche die Handlungszeit nahelegen könnte. Schon die grauen, fahrbaren Wände, welche die Bühnen in ihrer Massivität fast drohend bestimmen (Ausstattung: Joannine Cleemen, Moritz Weißkopf) sind nüchterne Dekors; pittoresk wirkt nur das mit Büchern vollgestopfte Domizil des Marquis de la Force, welches am Ende des zweiten Aktes nach vorne kippt und das Inventar auf den Bühnenboden entleert. Das lädierte Mobiliar bestimmt dann visuell den ersten Teil des dritten Aktes. Die Kostüme neutralisieren das Ambiente der Französischen Revolution ein wenig, verdrängen es aber nicht. Sonst würde das Geschehen ja auch unglaubwürdig werden.
Die Regisseurin geht umsichtig mit ihren Sängerdarstellern um, lässt Expressivität nicht überborden. Poulencs Musik tut bei aller scheinbaren Sanftmütigkeit beklemmenden Dienst genug. Die Personenführung wirkt durchwegs plausibel, der Männerchor wird weitgehend im Stillstand belassen. Gelsenkirchen wagte stärkeren „revolutionären Elan“. Beide Lösungen sind überzeugend.
Frau Engelhardt gewinnt vor allem durch Stille und gestische Zurückgenommenheit starke Szenenmomente. Hinzu kommen einige individuelle Bildideen. So erscheint Blanche immer wieder als kleines Mädchen: personale Erinnerung an eine Kindheit, welche langsam von Angst durchsetzt wird. Überaus plausibel, dass die kleine Blanche ihr reifes Alter Ego an die Hand nimmt und der drohenden Exekution erst einmal entzieht.
Besonderer inszenatorischer Akzent: Mère Marie hat eine Liaison mit dem Marquis, nachdem seine Frau Anpöbelungen durch den Straßenmob nicht überlebt hat (daher fraglos die Angstprägung von Blanche). Sie übernimmt die Funktion der mutterersetzenden Amme, ohne dass aus Statusgründen eine Heirat zustande kommt. Deshalb die Flucht in den Orden? Eine ambitioniert eingebrachte Episode; von Belang für das Gesamtgeschehen ist sie freilich nicht. Interessanter wirkt die fast schon inzestuöse Schwesterliebe durch den Chevalier de la Force. Der attraktive, klarstimmige Alexey Sayapin ersingt und erspielt sich fast die Rollenumrisse eines Wagnerschen Siegmund. Ungeachtet der vorgebrachten minimalen Einwände: Aachen bietet einen starken Abend, was vom Premierenpublikum nachdrücklich bestätigt wurde.
Als Blanche ist Suzanne Jerosme eine wahre Lichtgestalt (sängerisch wie darstellerisch), Katja Starke gestaltet mit ihrer Orgelstimme das Leiden der alten Priorin auf beklemmende Weise. Faustine De Monès bringt als glücksempfindende Schwester Constance vokales Leuchten in die düstere, schwerlastige Atmosphäre des Klosters; ihre Partie sang sie bereits am Theater Nordhausen. Die Figur der Madame Lidoine wird von Katharina Hagopian relativ weichstimmig konturiert, was zu dem entschiedenen, von Befehlshärte durchdrungenen Sopran Irina Popovas eindrucksvoll kontrastiert. Das passt, empfindet die Novizenmeisterin die neue Priorin doch als „Konkurrentin“ im Amt, auf welches sie sich Hoffnung machte. Anne Lafeber (Mère Jeanne), Margarita Dymshits (Soeur Mathilde) und Patricio Arroyo (Beichtvater) ergänzen stimmig das Ensemble.
Nochmals: eine stark beeindruckende Produktion, welche noch viele Opernfreunde erreichen sollte.
Christoph Zimmermann (16.4.2018)
Bilder (c) Theater Aachen / Ludwig Koerfer