26.9. (Premiere am 15.9.)
Musikalisch exquisit, szenisch zu aufgesetzt in tristem Ambiente
Das Theater an der Wien eröffnete seine Saison 2018/19 mit Händels Dramma per musica „Alcina“ (HWV 34) und fügte damit seinem Kanon würdiger Händelaufführungen ein weiteres Meisterwerk des in Halle an der Saale geborenen umtriebigen deutsch-englischen Komponisten hinzu. Ganze dreimal griff Händel bei seinen Opern auf Ariosts „Orlando furioso“ zurück: 1733 für „Orlando“ (HWV 31), 1735 für „Ariodante“ (HWV 33) und ein Jahr darauf für „Alcina“. Mehr als ein Jahrhundert zuvor aber feierte Francesca Caccinis (1587 – 1640) Ballettoper „La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina“ am 2. Februar 1625 ihre Uraufführung in der Villa Poggio Imperiale bei Florenz.
Diese Oper gilt zugleich als die früheste erhaltene Oper einer Komponistin. Aber zurück zu Händel: Zu seinen Lebzeiten kannte das gebildete Publikum selbstredend die Werke Ariosts. Die Zauberin Alcina lebt in der Vorstellung der Ausstatterin Katrin Lea Tag auf einer eher kargen Insel. Von daher ist es nicht richtig nachvollziehbar, weshalb so viele Männer ihre Schiffe an ihr Eiland lenken, wo sie stranden und den Reizen von Alcina erliegen. Ihrer einmal satt geworden, verwandelt die Zauberin sie in Pflanzen oder Tiere, bis sie sich in Ruggiero verliebt, der ihretwegen seine eigene Braut Bradamante vergisst. Doch Bradamante reist ihm in den Kleidern ihres Zwillingsbruders Ricciardo nach, um ihn zurück zu gewinnen. Ihr Begleiter Melisso wiederum benötigt Ruggiero für einen Kriegszug. Und nun beginnt das eigentliche qui pro quo. Morgana, die Schwester Alcinas, verliebt sich in Ricciardo/Bradamante, den/die sie reizvoller findet als ihren langweiligen Verlobten Oronte. Alcina büßt ihre Zauberkraft ein, weil sie sich in Ruggiero verliebte. Am Ende werden die verzauberten Männer mittels eines Zauberringes wieder zurück verwandelt. Die alte Ordnung scheint hergestellt. Alcina und ihre Schwester Morgana aber sind verschwunden.
Man erinnert sich noch an die Alcina in der Wiener Staatsoper 2010 mit einem Meer von Blumen und Pflanzen auf der Bühne. Damals schlug die Sternstunde des St. Florianer Sängerknaben Alois Mühlbacher als Oberto, der auf der Suche nach seinem Vater Astolfo ist, welcher von Alcina in einen Löwen verwandelt wurde. Inzwischen ist Alois Mühlbacher zu einem gefragten Countertenor avanciert und hätte in der Produktion am Theater an der Wien sicherlich auch die Rolle des Ruggiero verkörpern können. Immerhin griff auch das Theater an der Wien für seine Alcina auf einen Solisten der St. Florianer Sängerknaben für die Rolle des Oberto zurück. In der Derniere war Christian Ziemski zu sehen, dessen Spiel – man verzeihe mir den Vergleich mit Alois Mühlbacher – doch etwas zu introvertiert wirkte. Vielleicht war das aber auch von Regisseurin Tatjana Gürbaca so gewollt, aber die seinerzeitigen Attacken von Alois Mühlbacher mit seinem „Barbara!“ (Elende!) versetzten Anja Harteros, die damalige Alcina, für einen Moment in ziemliches Erstaunen und blieben mir in unvergesslicher Erinnerung. Gesanglich lieferte er seine Koloraturen auch viel verhaltener und in aller Seelenruhe ab. Das gesangliche und das darstellerische Potential dieses Sängerknaben hätten es wohl verdient, durch die Regisseurin stärker gefordert zu werden… Marlis Petersen in der Titelrolle der Zauberin Alcina hat, nach einer anfänglich kolportierten Indisposition bei der Premiere, wieder zu ihrer gewohnten Leistung zurück gefunden und fesselte mit dämonischer Ausdrucksstärke und einem hysterischen Lachen, das einem wie kalt den Rücken hinabrutschte und wie man es einst bei Leonie Rysanek als Klytämnestra erleben konnte.
Als Gegenspieler gefiel der australische Countertenor David Hansen in der Rolle des Ruggiero, der in der Staatsopernproduktion von Anno 2010 noch von Vesselina Kasarova interpretiert wurde. Seine exzessiven dramatischen Ausbrüche und scharfen Koloraturen waren höchst willkommen, um aus dem Dämmerschlaf infolge der optischen Tristesse der Drehbühne hellwach gerissen zu werden. Alcinas Schwester Morgana war bei Mirella Hagen mit ihrem mädchenhaften lieblichen Sopran bestens aufgehoben. Katarina Bradić bot eine Bradamante mit dunklem, voluminösem Mezzosopran, wobei sie den jeweiligen Arienbeginn, für mein Ohr wenigstens, bewusst tiefer ansetzte, wohl um ihrer Hosenrolle als vorgeblicher Zwillingsbruder mehr Glaubhaftigkeit zu unterlegen. Rainer Trost stattete Alcinas Feldherrn Oronte mit seinem nach wie vor strahlend jugendlich klingenden Tenor aus. Florian Köfler, ein junger österreichischer Bassist, gefiel als der getreue aber etwas langweilige Mitreisende Melisso. Bei all den exaltierten Charakteren dieser Oper bedarf es aber auch eines Ruhepoles zur Orientierung und Neubesinnung und eben diese Aufgabe fiel ihm zu und er erfüllte sie wahrlich gewissenhaft. Der Arnold Schoenberg Chor (geleitet von Erwin Ortner) bot wieder Feines vom Feinsten aber dieses Mal in wohldosierten Portionen.
Bei Regisseurin Tatjana Gürbaca ist Alcinas farbenprächtige Zauberinsel eine düstes Eiland, das wohl mehr zu einer Ariadne gepasst hätte. Aber vielleicht wollte sie ja bloß die Fantasie des Publikums anregen, welches solcherart die innere Isolation der Protagonisten wohl erahnen könnte. Weshalb sich die Drehbühne immer wieder drehen muss, entzieht sich einer Deutung, wird doch das Bühnenbild ohnehin nie verändert. Oder sollte das Drehmoment im Regiekonzept lediglich dazu dienen, den ermüdenden Längen entgegen zu steuern? Ein Spielzeugschiff in der Hand der Zauberin Alcina soll dann den Schiffbruch infolge stürmischen Seeganges darstellen. Wäre da nicht eine Videoeinblendung weitaus sinnvoller und optisch sogar spannender gewesen? Das etwas später einsetzende Feuerwerk könnte vielleicht dazu dienen, den Auftritt einer Zauberin dementsprechend vorzubereiten. Emanuel Schikander schau herab! Auch geschaukelt darf werden. Bei den Damen eher behutsam von hinten nach vorne, bei Ruggiero dann viel stürmischer von links nach rechts, wobei man genussvoll die Wadeln des durchtrainierten Counters in ihrem Muskelspiel – beugen – strecken – beugen usf. beobachten kann. Alexandra Liedtke ließ es erst unlängst in ihrer Inszenierung von „Samson et Dalila“ im Haus am Ring mitten im Zimmer regnen. Was läge ferner, als dieses „wunderschöne“, aber völlig sinnentleerte Bild auch auf der Bühne des Theaters an der Wien vorzuführen? Und so regnet es auch in dieser öden Steinwüste… Drastisch wird es dann, wenn sich Alcinas Feldherr Oronte und die vom Schicksal gebeutelte Morgana das eigene Herz aus der Brust reißen und unberührt weiter singen. Das wird dann schon fast peinlich und wurde auch vom Publikum der Derniere mit großem Gelächter goutiert. Reinhard Traub besorgte wieder einmal mehr das Einleuchten dieser mehr als tristen Szenerie.
Der Concentus Musicus Wien unter seinem musikalischen Leiter Stefan Gottfried, der beim Schlusschor sogar das Tambourin bedient, musizierte weniger schroff als sein Gründer, keinen Moment langweilig und in musikalischer Hinsicht auf beachtlich hohem Niveau.
Es gab wie gewohnt für alle Beteiligten einer Derniere stürmischen Applaus, dem sich der Rezensent gerne anschloss.
Harald Lacina, 27.9.18