Wien: „Candide“, Leonard Bernstein

© Werner Kmetitscht

Die Grundlage zu Bernsteins Revue „Candide“ bildete die 1759 unter dem Pseudonym Docteur Ralph erschienene satirische Novelle des französischen Philosophen Voltaire. Kurze Zeit später erschien 1776 eine deutsche Übersetzung unter dem Titel „Candide oder die beste aller Welten“. Darin wandte sich der Pessimist und Skeptiker Voltaire unter dem Eindruck des siebenjährigen Krieges und des Erdbebens in Lissabon 1755, nicht nur gegen die optimistische Weltanschauung von Gottfried Wilhelm Leibniz, sondern auch gegen den überheblichen Adel, Krieg, Sklaverei und die kirchliche Inquisition. Die US-amerikanische Dramatikerin Lillian Hellman (1905-84) schlug Bernstein 1953 vor, Voltaires Candide als Vorlage für eine Musical comedy zu verwenden. Sie selbst entwarf das sperrige Szenario und trotz der künstlerischen Abrechnung mit dem Bespitzelungsklima der damaligen McCarthy-Ära floppte diese Fassung nach der Uraufführung am 1. Dezember 1956 im Martin Beck Theatre in New York mit nur 73 Aufführungen. Immerhin brachte es eine Umarbeitung zu einem einaktigen Musical 1974 am Broadway Theatre mit 740 Vorstellungen zu einem respektablen Achtungserfolg. Die dritte Fassung, die sogenannte „Concert Version“, die am 13. Dezember 1989 im London Barbican Centre als konzertante Aufführung eingespielt wurde, hat das MusikTheater an der Wien seinem Publikum nun als szenische Aufführung slapstickartig und mit Augenzwinkern vorgesetzt. Neu an dieser „Wiener Fassung“ ist die in dramaturgischer Hinsicht ideal eingeführte Figur eines Erzählers anstelle der schwerfälligen Dialoge, und dieser agiert in Person von Vincent Glander grandios als Conférencier. Voltaires Candide reiht sich ein in die Gattung der Schelmenromane, ebenso wie Peer Gynt (Ibsen bzw Egk) oder  Wilhelm Meister (Goethe bzw Thomas‘ „Mignon“). Er trägt aber auch Züge eines „reinen Toren“ und verweist damit auf Parsifal. Das in Candide in satirischer Form aufgeworfene Problem der Theodizee behandelte Bernstein später in seiner 3. Sinfonie „Kaddish“ in einem imaginären Dialog mit Gott. In musikalischer Hinsicht lieferte Bernstein für Candide ein Potpourri der europäischen Musiktradition bis hin zur Zwölftonmusik. Und so hört man einen Choral à la Bach, eine Mazurka als Kampfmusik, zwei Walzer, Flamenco, eine Gavotte und eine Barkarole. Bernstein hat seinen Eltern ein poetisches Denkmal in Gestalt der Alten Dame gesetzt, die als ihren Geburtsort Rovno Gubernya, den heutigen ukrainischen Ort Riwne, nennt, aus welchem jene seinerzeit in die USA auswanderten. Eine zweite familiäre Anspielung birgt das Schiff, mit dem Candide von Surinam nach Europa zurückkehrt, die Santa Rosalia, benannt nach der Köchin der Familie Bernstein.

© Werner Kmetitscht

Erzählt wird in dieser Mischung aus Vaudeville, Opernparodie und Broadwayshow  die absurd-groteske Story eines mit sparsamen Geistesgaben gesegneten Einfallspinsels, der eine im Krieg verschleppte  Cunigonde liebt. Auf der Suche nach ihr reist Candide quer durch die Welt und erlebt Reichtum und Dekadenz, Armut, Inquisition, Pest und Syphilis, die ihm die Naivität und den Optimismus austreiben. Bühnenbildner Momme Hinrichs, der auch die Videos gestaltete, stellte in und auf die Bühne vier sich verjüngende Portalreihen, die mit Glühbirnen besetzt wurden. Eine große Showtreppe führt in die Bühnentiefe. Dazu schuf Ursula Kudrna 395 Kostüme, welche die Zeit des Dichterfürsten Goethe, die Zeit der Vaudevilles und der Commedia dell’arte und jene der großen Hollywood Revuen beschwor, eingebettet in stimmiges Licht durch Elana Siberski. Regisseurin Lydia Steier hat diesen komplexen Stoff in eine bühnenwirksame, effektvolle Form mit bilderreicher Opulenz gebettet, die einige Male an die britische Komikertruppe Monty Python erinnert, und man folgt ihr höchst vergnüglich als Teil des Publikums bis zur Pause.

© Werner Kmetitscht

Danach scheint der Abend aber etwas ausgedünnt, zumal die ständigen Wiederholungen ermüdend wirken. Und so auch das sehr amerikanische Finale, wenn sich Candide auf das einfache Leben zurückbesinnt und naiv,  wie er eben von Natur aus ist, ein Bäumchen pflanzt… Mit Dirigentin Marin Alsop steht eine ehemalige Schülerin Bernsteins und von daher eine Kennerin und Garantin für eine authentische Interpretation am Pult des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien. Die Solisten müssen teile mehrere Rollen verkörpern. Matthew Newlin in der Titelrolle untermauert die Naivität des reinen „Toren“ Candides mit seinem weich timbrierten lyrischen Tenor. Seine Kostümierung erinnert an das berühmte Rokoko-Ölgemälde The Blue Boy (1770) von Thomas Gainsborough. Dennoch begeht er im Laufe des Abends drei Morde. Nikola Hillebrand wartet für die Rolle der Cunegonde mit einem hellen Koloratursopran spielfreudig auf, indem sie als Sexarbeiterin einige betuchte Würdenträger in Ekstase versetzt. James Newby verlieh seinenerdigen Bariton der Rolle ihres Bruders Maximilian und des Tsar Ivan. Der nordirische Bariton Ben McAteer gab einen sonoren und witzigen Dr. Pangloss (alias Dr. Voltaire) und Martin, der Candides Optimismus verspottet und auf der Überfahrt nach Europa ertrinkt. Helene Schneiderman gefiel als Ohrfeigen austeilende Alte Lady und Begleiterin Cunegondes. Mark Milhofer sucht zwar als Gouverneur von Buenos Aires die Nähe Cunegondes aber keinen direkten körperlichen Kontakt mit ihr. Stattdessen muss sie ihn mit einem Dildo befriedigen, ohne dass dieser sein gegebenes Heiratsversprechen jemals einlösen wird. Darüber hinaus verkörperte er noch den holländischen Konsul Vanderdendur, den Candide in Surinam trifft und der ihm eine horrende Summe für einen morschen Kahn abknöpft, der auf der Fahrt nach Venedig kentert und er folglich gemeinsam mit Kim Il-sung, Fidel Castro, Mussolini und Donald Trump schiffbrüchig im Meer treibt, sowie den Grand Inquisitor im Autodafé und den Captain. Die in Dubna geborene russische Mezzosopranistin Tatiana Kuryatnikova war ein resolutes Hausmädchen Paquette im Schloss von Baron und Baronin Thunder-ten-Tronck in Westfalen. In weiteren zwölf Minirollen traten unter anderen sechs Mitglieder des Arnold Schoenberg Chores, der erstklassig von Erwin Ortner einstudiert wurde, auf. In der von Tabatha McFadyen kreierten Choreografie waren William John Banks, Martin Dvořák, Nikos Fragkou, Máté Rácz, Thomas Riess, Felix Schnabel und Jamie Winbank als kraftstrotzende Matrosen zu bewundern. Am Ende zeigte sich das Publikum von den Darbietungen dieses Abends rundum begeistert und belohnte alle Mitwirkenden mit langanhaltendem Applaus. In der Erfolgsstory des MusikTheaters an der Wien wurde mit dieser Produktion wohl wieder ein Meilenstein gesetzt, dem – hoffentlich – weitere folgen mögen…  

Harald Lacina, 4. Januar 2024


Candide
Leonard Bernstein

Theater an der Wien / Museumsquartier

Premiere: 17. Januar 2024
Rezensierte Vorstellung: 1. Februar 2024

Inszenierung: Lydia Steier
Musikalische Leitung: Marin Alsop
ORF Radio-Symphonieorchester