Wien: „Wo die wilden Kerle wohnen“, Oliver Knussen

(c) Werner Kmetitsch

Der britische Komponist und Dirigent Oliver Knussen (1952-2018) wurde vor allem durch seine beiden Kinderopern „Where the Wild Things Are“ und „Higglety Pigglety Pop!“, beide über Libretti von Maurice Bernard Sendak (1928-2012), in den 1980er Jahren bekannt. Sendak war ein US-amerikanischer Illustrator, Kinderbuchautor und Bühnenmaler. Sein neuer Realismus, mit dem er in der Kinderbuchliteratur bekannt wurde, stieß zunächst auf großen Widerstand. Wo die wilden Kerle wohnen, wurde sein populärstes Werk. Das 1963 zum ersten Mal veröffentlichte Kinderbuch kommt mit lediglich 333 Wörtern aus. Um daraus ein Opernlibretto zu gestalten, erfand Sendak, dessen Vorfahren polnische Juden waren, für die wilden Kerle, die Max auf der Insel erwarten, eine eigene Fantasiesprache, die dem Jiddischen nachempfunden ist. Das dergestalt erweiterte Opernlibretto besteht aus insgesamt 824 Wörtern, die den Komponisten zu seiner wohl wildesten Partitur inspirierten. Die deutsche Übersetzung besorgte Claus H. Henneberg. Zum Inhalt: Max, ein kleiner wilder Junge, der einen Wolfsanzug trägt. Nachdem er einen Wutanfall erleidet, schickt ihn seine Mutter ohne Abendessen ins Bett und sperrt ihn in sein Zimmer. Max aber flüchtet in seinen Träumen von seinem Kinderzimmer aus zunächst in einen Urwald, dann findet er ein Boot, klettert hinein und fährt über ein großes Meer. Unterwegs begegnet er noch einem wilden Seeungeheuer und gelangt schließlich auf die Insel der Wilden Kerle. Diese krönen ihn zu ihrem König, worauf ein riesiger Krawall folgt. Bald ist es Max aber leid und er schickt die wilden Kerle ohne Abendessen ins Bett und verspürt Heimweh. Also rudert er zurück und findet sich alsbald wieder in seinem Kinderzimmer, wo seine Mutter bereits ein Abendessen für ihn bereitgehalten hat. Knussen hat diese einaktige Fantasy-Oper in neun Bildern im Auftrag der Opéra National de Bruxelles zwischen 1979 und 1983 komponiert.

(c) Werner Kmetitsch

Die erste Version der etwa 45-minütigen Oper erschien dann am 28. November 1980 im Théâtre de la Monnaie unter dem französischen Titel Max et les Maximonstres. Von Inhalt und Form her ähnelt das Werk Maurice Ravels L’enfant et les sortilèges und Igor Strawinskys Le rossignol. Und natürlich finden sich in Knussens Musik auch einige musikalische Zitate, so das Glockenmotif der Krönungsszene aus Modest Mussorgskis Oper Boris Godunov oder Claude Debussys La boîte à joujoux. Einige formale Aspekte der Oper findet man auch bei Knussens Mentor Benjamin Britten, etwa die Sea Interludes aus Peter Grimes bei der Ruderfahrt über das Meer, sowie Harrison Birtwistles Oper Punch and Judy. Man wird an manchen Stellen auch an Aaron Copland, Gustav Mahler und Leonard Bernstein erinnert, an Letzteren im Rumpus-Tanz, der die Turnhallen-Tänze aus der West Side Story widerspiegelt. Alle diese Inspirationsquellen hat Knussen meisterlich in seiner Partitur verwoben, die über große Strecken leichtfüßig daher quillt. Unter Leitung von Stephan Zilias, Generalmusikdirektor der Staatsoper Hannover, haben die Wiener Symphoniker Knussens Musik an diesem Spätnachmittag auf höchstem Niveau umgesetzt. Immerhin umfasst das gewaltige Orchester 3 Flöten, 1 Oboe, 1 Englischhorn, 3 Klarinetten, 1 Fagott sowie 1 Kontrafagott, 4 Hörner, 3 Posaunen, 1 Harfe, 1 Klavier, 6 erste und 6 zweite Violinen, 4 Violas, 4 Cellos, 4 Kontrabässe und Schlagzeug. Auch ein Luftballon musste einmal zerplatzen! Regisseur Nikolaus Habjan hat die Oper mit viel Liebe zum Detail kindergerecht in Szene gesetzt. Die verwendeten Puppen wurden von Bruno Belil Espinos aus Barcelona hergestellt. Die Bühne von Jakob Brossmann ähnelt der Pittura metafisica des italienischen Malers, Grafikers und Bildhauers Giorgio de Chirico.

(c) Werner Kmetitsch

In der Bühnenmitte befindet sich ein Bett, das mit weißen Vorhängen wie ein kleines Puppentheater gestaltet ist und Max führt mit einem Krokodil in der einen Hand und einer Gans in der anderen einen Kampf der beiden Tiere gegeneinander vor. Rechts daneben steht ein übergroßer Stuhl, der – wenn auch deutlich kleiner – so doch an ein österreichisches Möbelhaus erinnert. An der linken Wand steht ein Bücherregal mit vielen Büchern. Mit einer blauen Stoffbahn wird das Meer angedeutet, mit einer Kiste das Boot, mit der die Max-Puppe zur fernen Insel rudert. Denise Heschl entwarf die fantasievollen Kostüme, so das bereits erwähnte Wolfskostüm von Max. Seine Mutter trägt einen braunen Hosenanzug mit einem orangefarbenen Cape darüber. Franz Tscheck hat die Szenerie feinfühlig beleuchtet. Die handelnden Personen wurden durch Puppen während der Aufführung gedoppelt. Die Rolle des Max wurde von der in Eutin geborenen Sopranistin Jasmin Delfs mit Verve gesungen. Sie sang zahlreiche halsbrecherische Koloraturen ohne jegliche Schwierigkeiten. In der Doppelrolle als seine Mutter und Tzippie, einer der wilden Kerle, verströmte Katrin Wundsam ihren warmen Mezzosopran. Die wilden Kerle traten immer fünfstimmig auf: Zu hören und sehen waren: Tenor Peter Kirk als Bart- und Ziegenkerl mit Puppenspiel von Lisa-Marie Bachlechner und Elisabeth Austaller, Bariton Zoltán Nagy als Hornkerl mit Markus Lipp als Puppenspieler, Bassbariton Matthias Hoffmann als Hahnkerl samt Stefanie Elias als Puppenspielerin und Bass Martin Summer als Bullenkerl mit Sebastijan Geč als Puppenspieler.

(c) Werner Kmetitsch

Die Max-Puppe wurde von Angelo Konzett und jene der Mutter und Tzippie von Anderson Pinheiro da Silva bewegt. Ich hatte während der Aufführung den Eindruck, dass viele Kinder dem Handlungsablauf der Oper nicht folgen konnten, da sie häufig ihre Eltern nach Erklärungen fragten. Ja liebe Eltern: man sollte nie unvorbereitet mit Kindern in eine Oper gehen, schließlich gibt es ja einen Einführungsvortrag bzw. kann man ihnen zuvor den ohnehin kurzen Inhalt wohl vorlesen! Insgesamt gesehen endete die Spätnachmittagsvorstellung mit großem Applaus für alle Beteiligten und das gesamte Regieteam. Bravo!  

Harald Lacina, 17. Dezember 2023


Wo die wilden Kerle wohnen
Fantasieoper von Oliver Knussen

MusikTheater an der Wien im Museums Quartier Halle E

16. Dezember 2023

Inszenierung: Nikolaus Habjahn
Musikalische Leitung: Stephan Zilias
Wiener Symphoniker