Wien: „Peter Grimes“

21.10.2021, Premiere: 16.10.2021

Eine der faszinierendsten Inszenierungen der Ära Geyer war wohl „Peter Grimes“ aus dem Jahr 2015. Auf Wunsch großer Teile des Publikums wurde die Erfolgsproduktion von Christof Loy stark adaptiert einem begeisterten Publikum neuerlich vorgeführt. Neu ist nun die stärkere Konzentration auf den Waisenhausknaben John, der zum erotischen Angelpunkt des Geschehens um Peter Grimes wird. Seiner lasziven Ausstrahlung verfallen gleichermaßen Frauen wie Männer, letztere unter dem modernen Schlagwort „bi-curious“. Vieles davon wird von Britten bereits in den Zwischenaktmusiken angedeutet, die er später dann in Abwandlung in seiner Oper über Kindesmissbrauch, „The Turn of the Screw“, noch ausgefeilter zum Einsatz bringt. Das was gemeinhin der Fantasie der Betrachtenden überlassen wird, hier wird es choreographisch packend dargestellt. John, der Waisenhausknabe, könnte bereits in frühen Jahren missbraucht worden sein und tritt nur vordergründig als Strichjunge auf; er sehnt sich wie alle Agierenden um ihn nach Zuneigung, seelischer wie körperlicher.

Bei dem brutalen Peter Grimes fühlt er sich einigermaßen geborgen. Er sieht in ihm eine Art von „Vaterfigur“, zu der er sich mit all seinen Sinnen hingezogen fühlt. Die mancherorts geäußerte Forderung nach sogenannten „werkgetreuen“ Inszenierung kann wohl nur einem frommen Wunschdenken entspringen, würde doch dadurch jegliche künstlerische Interpretation ad absurdum geführt und jede Neuinszenierung eines bekannten Werkes obsolet machen. Es sei an dieser Stelle nur an Richard Wagners Forderung: „Kinder, schafft Neues!“ (1852) erinnert. Darüber hinaus bezog Britten in seiner Oper zum Thema der latent mitschwingenden Homosexualität zeitlebens nicht Stellung, galt diese doch zum Zeitpunkt der Uraufführung der Oper noch als strafbarer Tatbestand nicht nur in England. Von der minimalistischen Ausstattung von Johannes Leiacker besticht noch immer das über den Rand der schräg geneigten Bühne symbolträchtig hinausragende Bett, als Ort der Flucht, der Gewalt, der Sehnsucht und angedeuteten sexuellen Begierde, bedrohlich, denn der tiefe Orchestergraben versinnbildlicht zugleich die Gefahr des Absturzes. Zusammen mit den zeitlich nicht näher verorteten Kostümen von Judith Weihrauch denkt man unwillkürlich an die Filme des dänischen Kultregisseurs Lars van Trier. Peter Grimes ist ein Zerrissener, auf der Suche nach dem, was er sich als sein „bürgerliches Lebensglück“ erträumt: Ein wenig Wohlstand, um dann endlich zu heiraten und eine Familie zu gründen. Der aufopferungsbereiten Lehrerin Ellen Orford gelingt es aber nicht, dem sich in seiner Einsamkeit Verzehrenden körperliche Zuneigung und Geborgenheit zu schenken, Grimes aber stößt sie barsch von sich. Er hat bereits einen Gehilfen während eines Fischzugs verloren und nun begegnet ihm das gesamte Dorf mit großem Misstrauen bis auf den ehemaligen Kapitän Balstrade, der sich als Außenseiter dem Ausgestoßenen zugetan fühlt. Peter Grimes aber erwidert auch diese Zuneigung für ihn nicht. Stattdessen nimmt er sich trotzig einen neuen Gehilfen und wehrt die zärtlichen Annäherungsversuche des jungen Mannes auf der Suche nach eigener Selbstverwirklichung nicht ab. Ein Happy End kann es in dieser Konstellation nicht geben. Auch dieser Gehilfe ertrinkt und erscheint nochmals in einer Apotheose in einem grandiosen Pas de Deux mit Peter Grimes, der den toten Knaben zärtlich in seine Arme schließt und der in seiner Fantasie wieder zum Leben erwacht (Choreografie: Thomas Wilhelm). Auf Anraten von Kapitän Balstrade versenkt Peter Grimes schließlich sein Boot in der rauen See. Auch wenn das Meer dabei als stimmungsgebendes Element optisch nicht zu sehen ist, so ist es omnipräsent in den Seelen der Beteiligten vorhanden, denn diese gleicht dem Wasser.

Eric Cutler beeindruckte als zerrissener Außenseiter Peter Grimes mit prächtigem Heldentenor. Als starker Mann kann er auch für kurze Augenblicke ehrliche, tiefe Gefühle zeigen. Der Tänzer Gieorgij Puchalski war als sein Gehilfe John bereits 2015 zu sehen. Er ist hier, anders als bei Britten, die personifizierte Verführung voller lasziver Schönheit, der niemand widerstehen kann. Auch Andrew Foster-Williams als Kapitän Balstrode wird von der Ausstrahlung des Gehilfen angezogen, erliegt ihr beinahe, um sich im letzten Moment doch abzuwenden. Er wirkt in dieser Rolle wie ein trauriger Pierrot, nur ohne entsprechende Maske, ausgestattet mit einem äußerst robusten Bariton. Die schwedische Sopranistin Agneta Eichenholz als emanzipierte Lehrerin Ellen Orford wirkte bereits 2015 mit und ließ in ihrem eleganten Hosenanzug mit stimmlicher Opulenz und äußerster Entschlossenheit aufhorchen. Ein Wiedersehen gab es auch mit Bayreuth Heroine Hanna Schwarz, deren Brangäne, Waltraute, Erda, aber vor allem ihre Fricka im Chereau-Ring unvergessliche Abende in Erinnerung rufte. Sie trat in der skurrilen Rolle der Kneipenwirtin „Auntie“ in körperengem rotem Hosenanzug mit karottenrotem Haar, fallweise in Begleitung ihrer rosa gekleideten Nichten, Miriam Kutrowatz und Valentina Petraeva, auf. Mit dabei auch der einstige Star von Covent Garden, Rosalind Plowright, in der Rolle der hippiehaft gekleideten und koksenden Witwe Mrs Sedley, der die komische Seite des Abends anheimfiel. Der britische Tenor Rupert Charlesworth als Methodist Bob Boles und der schwedische Tenor Erik Årman als sein Gegenspieler, der biedere Reverend Horace Adams, setzten beide starke gesangliche wie darstellerische Akzente. Auch Thomas Faulkner als Rechtsanwalt Swallow mit mächtigem Bass, Edwin Crossley-Mercer als Apotheker Ned Keene sowie Lukas Jakobski als Fuhrmann Hobson trugen zum großen Erfolg dieses Abends bei. Thomas Guggeis sorgte am Pult des ORF-Radio-Symphonieorchester Wien für eine spannungsgeladene Umsetzung der ausgefeilten Partitur Brittens, die an manchen Stellen an Carl Orffs Carmina burana aber auch an Bergs Wozzeck erinnert. Unüberhörbare musikalische Anleihen bei Benjamin Britten hat sicherlich auch Sir Andrew Lloyd Webber für sein Musical „Jesus Christ Superstar“ genommen. Der Arnold Schoenberg Chor unter seinem Leiter Erwin Ortner war dieses Mal auch choreographisch von Thomas Wilhelm gefordert. Als bedrohliche Masse kommt ihm bei Britten eine ähnliche, kommentierende Funktion zu wie dem Chor im antiken griechischen Drama. Gleich zu Beginn schrecken sie mit ihren aufgedrehten Taschenlampen Peter Grimes aus dem Bett auf und am Ende der Oper mit den gleichen Drohgebärden den im Bett von Peter Grimes zusammen gekauert liegenden Balstrode. Das begeisterte Publikum spendete langandauernden starken Schlussapplaus mit Bravorufen für die Protagonisten.

Harald Lacina, 21.10.21

Bilder von Monika Rittershaus