Wien: „Theodora“, Georg Friedrich Händel (zweite Besprechung)

Dieses dramatische Oratorium von Georg Friedrich Händel (HWV 68) wurde am 16. März 1750 im Theatre Royal in Covent Garden in London uraufgeführt. Thomas Morell verfasste das Libretto auf Grundlage von Robert Boyles 1687 publizierter Abhandlung The Martyrdom of Theodora and of Didymus. Als weitere Quelle diente ihm die Tragödie Théodore, vierge et martyre von Pierre Corneilles von 1645. Während der Fastenzeit war die Aufführung von Opern verboten, weshalb man Oratorien aufführte, die szenisch nicht eingerichtet werden mussten. Hatte sich Morell bei seinen früheren Oratorienlibretti für Händel an den biblischen Erzählungen orientiert, hatte er bei der Märtyrerlegende um Theodora einen gewissen Freiraum und gestaltete es als Opernlibretto. Die Handlung ist kurz erzählt. Um 300 n.Chr. erfolgte eine der grausamsten Christenverfolgungen unter Kaiser Diokletian. Theodora, eine christliche Jungfrau aus Antiochien, wird in ein Bordell gesteckt, da sie sich weigerte den römischen Göttern zu opfern. Der römische Soldat Didymus tauscht seine Kleider mit ihr und wird zum Tod verurteilt. Theodora versucht ihn zu retten und erleidet gleichfalls das Martyrium, wodurch eine Verbindung, zu der unlängst im Musiktheater an der Wien gezeigten Märtyreroper Les martyrs von Donizetti, gegeben ist. Wie aber lässt sich ein Oratorium nun szenisch auf einer Bühne darstellen?

(c) Monika und Karl Forster

Regisseur Stefan Herheim und seine Bühnenbildnerin Silke Bauer entschieden sich für den abstrakten, wie eine Kathedrale wirkenden Raum des Café Central in Wien, in welchem die fünf Protagonisten „kellnerieren“. Sie nehmen unterschiedliche Positionen zu dem Befehl, den römischen Göttern zu opfern, ein: Der Stadthalter Valens will das Gesetz umsetzen, Septimius empfindet Mitleid mit den betroffenen Christen, der Konvertit Didymus sieht diesen Befehl als ein Unrecht an, da man Glaube nicht gewaltsam erzwingen könne, während Irene einen Ausweg allein im Gebet zu finden sucht. Den radikalsten Zugang aber hat Theodora, die in ihrer einstimmigen Auftrittsarie „Fond flatt’ring world, adieu“ einer Art Siciliano, die Vorfreude auf die himmlische Glückseligkeit zum Ausdruck bringt. Im Gegensatz zum Text aber drückt Händel in dieser Arie in c-moll Theodoras innere Zerrissenheit durch einen schluchzenden Sarabandenrhythmus aus. Die Grundtonart des gesamten Oratoriums ist g-moll und beschreibt die Welt der Christen. Sowohl die Ouvertüre als auch der Schlusschor sind in dieser Tonart geschrieben. Als Gedankenmodell aber dient das Café Central in der Herrengasse 14 im 1. Wiener Gemeindebezirk als Abbild unserer spirituell entleerten Welt. Die Gäste aber können diesen Raum, wie in Luis Buñuels Film noir „Der Würgeengel“, nicht verlassen. Die Kostüme von Gesine Völlm sind dieser Gegenwart verpflichtet. Einmal dürfen sich die Protagonisten sowie die Choristen ihrer Kleidung bis auf die Unterwäsche entledigen, was Herheim bereits in seinem Ring an der Deutschen Oper Berlin vorgeführt hat. Nicht so radikal, allerdings wie bei Martin Kušej, der hätte zumindest die Männer gleich ganz nackt gezeigt, was für ein Oratorium wohl zu weit gegangen wäre.

(c) Monika und Karl Forster

Ein Billardtisch dient Theodora als Opferaltar: zunächst entledigt sie sich ihrer langen Haare, dann frönt sie eben dort unverblümt ihrer Todessehnsucht. Dass sie und Didymus am Ende den Märtyrertod erleiden, geht aus der Inszenierung nicht schlüssig hervor, zumindest wird diese Möglichkeit am Ende durch einen oberhalb des Kaffeehauses schwebenden Engel (Anmerkung: es gibt keine weiblichen Engel!) mit gro Forstersßen weißen Flügeln angedeutet, während das darunter liegende Café Central versinkt… In musikalischer Hinsicht hinterließ der Abend einen recht guten Eindruck. Bejun Mehta zelebrierte am Pult des La Folia Barockorchesters einen äußerst sensiblen Komponisten in verinnerlichter Seelendramatik schwelgend, ohne gleich üppig aufzufahren, womit er schon die impressionistische Musik des 19. Jhd. vorwegnahm. Durchdrungen ist diese Musik von einer Metaphorik des Feuers und der Flammen. Das Feuer des Glaubens wie die Flammen des Scheiterhaufens.

(c) Monika und Karl Forster

Die Protagonisten sangen und spielten auf hohem Niveau. Die US-Amerikanerin Jacquelyn Wagner bezauberte mit ihrem jugendlich lyrisch-dramatischen Sopran in der Titelrolle mit ihrer fabelhaften Technik und ergreifenden Rollengestaltung. Die frankokanadische Mezzosopranistin Julie Boulianne war im Theater an der Wien bereits als Sesto in Händels Giulio Cesare zu erleben. Sie gefiel in der großen Rolle der Irene, die ihr Heil glaubensstark im Gebet sucht. Der US-amerikanische Countertenor Christopher Lowrey imponierte dem Publikum mit seinen ausgefeilten Koloraturen bei einer angenehm timbrierten Stimme als Didymus. Der Texaner David Portillo wartete für die Nebenrolle des Septimius mit einem schön geführten lyrischen Tenor auf. Im Café Central fungiert er als Piccolo. Der US-amerikanische Bassbariton Evan Hughes zeigte seinen durchtrainierten Oberkörper als römischer Staathalter Valens, hier als umtriebiger wie sadistischer Cafetier. Die kleine Rolle des Boten gestaltete der US-chilenische Bariton Zacharías Galaviz-Guerra, Mitglied des Arnold Schoenberg Chors.  Dem von Erwin Ortner geleiteten Arnold Schoenberg Chor kam als Bindeglied zwischen Heiden, Christen und uns als Publikum eine tragende Rolle in diesem Oratorium zu. Zugleich fungierte er als Stimmungsbarometer mit seiner Auf- und Abbewegung und spiegelte alle menschlichen Emotionen wider. Am Ende gab es starken Applaus für alle Beteiligten und zahlreiche Bravorufe für das Märtyrerpaar und den Dirigenten von dem nach der Pause noch verbliebenen Teil des Händel Fan-Gemeinde.

Harald Lacina, 25. Oktober 2023


Theodora
Georg Friedrich Händel

Theater an der Wien
Besuchte Vorstellung: 23. Oktober 2023

Premiere 19. Oktober 2023
Museumsquartier Halle E

Regie: Stefan Herheim
Dirigat: Bejun Mehta
La Folia Barockorchester