Augsburg: „Macbeth“

zum zweiten

Premiere: 30.5.2015

Besuchte Aufführung: 23.10. 2015

Grotesk und bewegend

Macbeth in Augsburg – seltsamerweise ist es keiner der Sänger der Titelpartien, der beim Opernfreund den intensivsten vokalen Eindruck hinterlässt. Es ist ein profunder Bass, der nicht (wie man es häufig erleben kann) als Mickerbass, sondern als authentischer Vertreter dieser Stimmgattung auf der Bühne steht: Vladislav Solodyagin. Als Banquo hat er „nur“ eine große Szene und Arie, doch reicht sie aus, um beim Hörer an Thomas Manns Wort von der „Fülle des Wohllauts“ zu provozieren. Solodyagin muss nicht forcieren, er rödelt nicht, er macht nicht den Eindruck, dass er ein Bariton ist, der sich ins falsche Fach verirrt hat. Er singt einfach souverän seine Leiden heraus, die der Komponist im Kreuzungsfeld von reinem Musikdrama und ebenso purem, freilich koloraturlosem Belcanto verortet hat.

Nicht, dass der Königsmörder und seine Gattin dagegen abschmieren würden. Auch bei den beiden Hauptrollen hält das Theater Augsburg sein Niveau: Ricardo López ist das, was man im abgenutzten Jargon als „ansprechend“ bezeichnet – doch wünscht der Hörer sich meist mehr Kraft. Auf der gefährlich offenen, von Ralf Käselau entworfenen Bühne – sie besteht im Prinzip aus einem großen hohen und einem intimen, breiten und nicht sehr tiefen Raum – geht seine Stimme in den Ensembles meist verloren. Hat López die Chance, die wütenden und depressiven Attacken im zusehends zerstörten Hotelzimmer zu reiten, ohne vom Orchester oder vom Chor – der unter der Einstudierung von Katsyarina Ihnatsyeva-Cadek seinerseits im Raum dynamische Probleme hat – erdrückt zu werden. Wäre allein die Dynamik das Beurteilungskriterium für gelungenen Operngesang, hätte López wenig Chancen auf einen Preis – als Ausdruckskünstler ersingt und erspielt er sich einen Macbeth, der noch in den Exzessen seiner Psyche zwischen Verdis Forderung nach totaler Dramatik und dem, was der „normale“ Opernbesucher als Schöngesang akzeptiert, noch schön vermittelt. Dass er nicht den entscheidenden Eindruck hinterlässt: es liegt denn doch an der fehlenden Lautstärke, die selbst dann von Nöten ist, wenn das Orchester (in diesem Fall die guten Augsburger Philharmoniker) derart differenziert und ohrenöffnend spielt wie hier: unter der Leitung Samuele Sgambaros. Es ist, noch vor den Hexen, das erste Kollektiv, das uns Verdis Drama in all seinen Zügen erzählt und eher genau als pauschal operiert. Nicht in jeder Aufführung hört man ja wirklich, wie modern Verdis Partitur ist, wie sie mit haarscharfer Kammermusik, betörenden Dissonanzen und einem für die italienische Oper von 1847 (vermutlich) unbekannten Farbreichtum Shakespeares Drama kaum den Konventionen der zeitgenössischen Oper, mehr noch Verdis Willen zum Shakespeare-Nachvollzug gehorcht.

Und die Lady? Sally du Randt singt sie, als sei sie schon vom ersten Wort an gefährdet. Das erste Wort kommt allerdings nicht aus ihrem Mund, sondern – da wird der Brieftext verlesen, der den Aufstieg des Gatten mitteilt – aus der Tonkonserve (wie der Soundtrack der Aufführung auch sonst gelegentlich mit Spezialeffekten arbeitet). Nein, ihre Stimme ist nicht zerbrochen, aber zerbrechlich. Dieser in der Höge doch fragile Ton verleiht der Figur eine Authentizität, die weit über das Maß dessen hinausgeht, was ein auf eine „schöne Stimme“ gepolter Opernbesucher erwartet – aber genau in diesem Spektrum, in dieser Farbei einer nervösen Zerbrechlichkeit stellt Sally du Randt eine Lady auf die Bühne, die seltsam authentisch anmutet. Wieder mag man dynamische Durchschlagskraft vermissen, aber sie ist nicht alles. Was wir in Augsburg hören, ist ein seltsames Paart: beide sind nicht auf der Höhe dessen, was gewöhnlich vom Opernsänger verlangt wird – aber beide überzeugen durch Charakterzeichnung und Stimmklang. Wie gesagt: wenn man einige Momente vergisst, dass sie „eigentlich“ stärker sein müssten, um das Letzte an Drama herauszuholen, denn die Gewalt ist, gerade in dieser Oper, eine nicht zu unterschätzende Kategorie. Es muss also nicht überraschen – und ist selbstverständlich – dass Thorsten Büttner den längsten Arienapplaus einsackt: als Macduff hat er ja auch, nach dem ergreifenden Patria-Chor, eine ergreifende, einfach eine „schöne“ Arie zu singen.

Dabei ist Macbeth bekanntlich kein „schönes“ Stück. Lorenzo Fioroni bietet zwar diesmal keine vollkommene Neudeutung – worin er ein wahrer Meister ist -, sondern eine Variation des Stücks. Dieser Macbeth spielt zwar immer noch in einem Krieg, doch hat sich, was grausig und grotesk genug ist, das Gefecht aufs Terrain des Kinderzimmers und des Volksfests verlagert. Endet diese Inszenierung auch in einem völlig zerstörten Hotelzimmer, in dem wir auf die Skelette des Titelhelden und seiner Gattin schauen, so ist durchaus nicht klar, wo Wahnsinn, Phantasie und sog. Wirklichkeit beginnen. Das versteht sich: für Fiorino sind die Machtbestrebungen des seltsamen Paars, das ab dem dritten Akt systematisch zugrunde geht, die Fantasien von Menschen, die ein gebrochenes Verhältnis zur Realität haben – denn die Macht zu bekommen, mag ein Kinderspiel sein. Sie zu bewahren, ist der pure Krieg. Und so marschieren in der Königsparade und auf dem Volksfest – durchaus passend zur Musik einer italienischen Banda, die Fiorino auch als solche auf die Bühne bringt – die groteskesten Puppen und Figuren herein: Chuckie, die Killerpuppe, der sprechende Käse, Alice im Wunderland… Am schrecklichsten aber sieht der monströse Teddybär mit seinen Hauern aus, der sich, gleichsam mit einer Abendlatte, ins Hotelbett der beiden Macbeth’ legt, um gemeuchelt zu werden.

Natürlich ist das lächerlich, ja „unangemessen“ – aber wo die Oper, in der es um politische Morde und seelische Verkrüppelungen, auch um das Kampfmittel der Erotik und des puren Sex geht (die Lady und ihr abhängiges Opfer) geht, auf die Gegenwart trifft, müssen auch mal Grenzüberschreitungen erlaubt sein. Fioroni aber belässt es nicht bei der Persiflage der grausigen Puppen. Er macht aus den Hexen zunächst ein Corps von Huren, die den Krieg zu begleiten pflegen und ihrerseits zu Opfern des Krieges und der allfälligen Gewalt werden können – doch ab dem dritten Akt, der Macbeth’ Abstieg einleitet (analog zu Richard Wagners zweigeteiltem „Rienzi“ könnte man auch von „Rienzis Aufstieg“ und „Rienzis Untergang“ sprechen), wendet sich das Blatt: systematisch und symbolisch. Macbeth trägt da plötzlich die Klamotten seiner Frau, während diese im Königsmantel vor sich hin visioniert. In dieser Verkleidung trifft er zum zweiten Mal auf die Hexen, die die Gewandschneiderei unter der Leitung der Kostümbildnerin Annette Braun in Herrenkostüme gesteckt hat. Nun ist es Macbeth, der von den Hexen brutal und sexuell gedemütigt wird. Auch dies ist grotesk, ja lächerlich. Nein, Fioronis Theater ist niemals „realistisch“ – aber es enthält einen Abglanz der Wirklichkeit, der in diesem Fall durch symbolische Übertreibungen überzeugt. So wie sich die Handlung der vier Akte von Jahreszeit zu Jahreszeit, von Macbeth’ Frühling zu Macbeth’ Winter begibt, so setzt Fioroni auf eindeutige Bilder, die Macbeth’, vor allem aber der Lady Macbeth’ Machtstreben als kindliche, von Heroin und Aufputschmitteln befeuerte Fantasien enthüllt.

Gibt es in diesem Theater der Grausamkeit, in dem die kleine Welt der Macbeth’, das Hotelzimmer, zusehends vernichtet wird, und in dem Banquo seine letzte TV-Botschaft an die Welt richtet, bevor er auf die Giftkapsel beißt – gibt es hier auch Bilder der Schönheit? Es gibt sie. Wunderbar der eine zauberhafte Moment während des gestörten Fests, in dem sich die Lady und ihr Mann im vernebelten Gegenlicht vor dem mit vielen Glühlampen ausgestatteten Rummelplatzrad begegnen. Rührend der Patria-Chor, in dem „das Volk“ seine „getöteten Kinder“ buchstäblich auf die Bühne bringt, bevor die Lady mit einem toten Knaben ein letztes Weihnachten feiert.

Dass die Kammerfrau und der Arzt zwei Weihnachtsmänner persönlich sind, muss natürlich nicht verwundern – und wem’s nicht gefällt, dem sei gesagt: es muss einem nicht gefallen. Fioroni liebt es eben, alles anders zu machen: mal mehr, mal weniger.

Es gab andere Inzenierungen des Meisterregisseurs, in denen die Umdeutungen besser geklappt haben. Dass diesmal die nicht ganz einfach zu deutende Groteske das Bild beherrscht und das Publikum, wenn nicht alles täuscht, mit dieser Bildwelt seine Probleme haben könnte: es sollte zu denken geben. Andererseits: ist Verdis Macbeth nicht ein außergewöhnlich konzentriertes Musikdrama im Gewand einer italienischen Oper der Verdi-Zeit, das besondere Anstrengungen geradezu provozieren sollte?

Was bleibt, ist, so gesehen, vielleicht weder ein Monsterbär noch ein nach allen Regeln der neueren Opernkunst zerstörter Raum (in dem übrigens nicht besonders stark mit Kunstblut gesudelt wird). Was bleibt, ist sicherlich ein Damenchor in Herrenkostümen, eine sekundenkurze, eindringliche Begegnung im Nebellicht, eine fragile Stimme, ein besonders stark wirkender Trauerchor.

Was ganz am Ende aber auch bleiben wird, ist ein Abschied der besonderen Art. Nach den ersten Vorhängen wurde, umringt vom gesamten Ensemble, ein Mann, der 40 Jahre lang zumeist im Verborgenen arbeitete und den Ablauf von Aberhunderten von Aufführungen koordinierte. An diesem Abend wurde der Inspizient Hans Obels nach vier Jahrzehnten Theaterzugehörigkeit von der Intendantin (und Dramaturgin) Juliane Votteler warmherzig und bewegend – bewegend selbst für den Zufallsbesucher – verabschiedet.

Ein Mann im Verborgenen, aber ehrlich, beliebt und geehrt – wer weiß: wenn Macbeth und seine Lady sich angestrengt hätten, wären sie vielleicht auch zu „netten Menschen“ geworden. Nur hätte Shakespeare dann kein Drama über sie geschrieben – und wir würden heute, nach 168 Jahren, nicht mehr in der Oper sitzen, um uns das Werk eines oberitalienischen Maestro anzuschauen.

Frank Piontek, 25.10. 2015

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