Bonn: „Ein Brief“ / „Christus am Ölberge“

Besuchte Vorstellung: Premiere am 8.2.20

Lebhafter Beifall im nahezu ausverkauften Haus für einen Abend in Festspielqualität mit dem Beethovenorchester unter Dirk Kaftan und dem Bonner Opernchor und Extrachor unter Marco Medved mit der Welturaufführung „Ein Brief“ von Manfred Trojahn und Beethovens Oratorium „Christus am Ölberge“.

Eigentlich sollte Manfred Trojahn als Einleitung zu Beethovens „Christus am Ölberge“ das „Heiligenstädter Testament“ vertonen, denn Beethovens einziges Oratorium ist mit der Aufführungsdauer von einer knappen Stunde allein zu kurz für einen Opernabend. Es wurde bei seiner Uraufführung am 5. April 1803 im Theater an der Wien mit Beethovens drittem Klavierkonzert und seinen ersten beiden Sinfonien kombiniert.

Diesmal stellt Dirk Kaftan dem Oratorium eine Welturaufführung voran, die reflexive Szene „Ein Brief“, Auftragskomposition der Oper Bonn von Manfred Trojahn, die eine vergleichbare persönliche Krise thematisiert. Die sehr aufwändige Produktion wurde gefördert aus den Mitteln der BTHVN2020-Projektgesellschaft. Sie wird übrigens am 29. Februar 2020 im Theater an der Wien konzertant aufgeführt.

„Warum wird dieses Oratorium nicht häufiger gespielt?“ so fragt der junge Tenor Kai Kluge bei der Premierenfeier: „Christus wird hier so wunderbar menschlich dargestellt!“ Die Frage beantwortet der Intendant in seiner Laudatio: die Partie des Christus erfordert einen lyrischen Tenor mit Anlagen zum Spinto-Fach, der in der Lage ist, die Zerrissenheit des mit der Erlösung der Menschheit nahezu überforderten Menschen Christus adäquat auszudrücken. Kluge hat dies mit seinem unfassbar schönen lyrischen Tenor in anrührender Weise geleistet.

Auch die von Ilse Eerens mit erlesenem lyrischem Koloratursopran gestaltete Partie des Seraphen stellt enorme Anforderungen, ganz abgesehen von der Chorpartie drei verschiedenen Männerchören, die absolut professionelle Sänger verlangt.

Zu Beethovens Zeit war man außerdem mit der Darstellung Christi als leidenden Menschen aus Fleisch und Blut und dem Bruch mit den Konventionen des Oratoriums offenbar überfordert. „Christus als Sohn Gottes und als Menschen aufzufassen bedeutete für nicht wenige Gläubige im frühen 19. Jahrhundert eine theologische Verwirrung; seine menschliche Seite dann auch noch szenisch darzustellen war ganz einfach Blasphemie“, so der Beethoven-Biograph Jan Cayers, zitiert im Programmheft. „Jeder Ton spricht von der Betroffenheit des Komponisten. Denn das Oratorium handelt auch von Beethoven selbst, der tief berührt war von den Parallelen zwischen dieser Christus-Geschichte und seinem eigenen Schicksal“, so Cayers.

Beethoven wäre nicht Beethoven, wenn er nicht mit einem Handstreich die Gattung Oratorium neu definiert hätte. Es gibt – im Gegensatz zu den damals bekannten Oratorien Haydns und Händels – keinen Evangelisten und keinen durchgehenden Bibeltext als Grundlage. Das Libretto stammt vom Wiener Literaten Franz Xaver Huber (1760-1810), der Matthäus 26, 36-56, Markus 14, 32-52, Lukas 22, 39-53, Johannes 17 und Johannes 18, 1-11 einbezieht. Die Passionsgeschichte wird auf die Reflektion des bevorstehenden Opfertods Christi und die dramatische Ergreifung reduziert.

Direkt nach der Ouvertüre drückt Kai Kluge als Christus in der großen Arie: „Meine Seele ist erschüttert von den Qualen, die mir dräu´n …“ seine menschlichen Ängste angesichts der Überforderung, durch seinen Opfertod am Kreuz die Menschheit zu retten aus: „… nimm den Leidenskelch von mir“. Ausgesprochen beeindruckend ist die Szene, in der der Seraph auf einem aus den Körpern einiger Tänzer geformten Podest, gestützt von zwei Tänzerinnen, die Arie „Preist des Erlösers Güte …“ singt.

Das Duett Seraph / Christus: „Groß sind die Qual, die Angst, die Schrecken, die Gottes Hand auf mich/ihn ergießt, doch größer noch sind meine/seine Liebe, mit der mein/sein Herz die Welt umschließt“, kann als Essenz des christlichen Erlösungsmythos gesehen werden.

Danach überschlagen sich die dramatischen Ereignisse: der Chor der Krieger, die Christus suchen und ergreifen, der Versuch des Petrus, „In meinen Adern wühlen gerechter Zorn und Wut“, Jesus Christus zu retten, der Abschluss „… bald ist gänzlich überwunden und besiegt der Hölle Macht“ mit dem triumphierenden Chor der Engel ist ganz großes Musikdrama und verlangt nach einer szenischen Realisation.

Hier kommen die zehn hervorragenden Tänzerinnen des Folkwang Tanzstudios in der Choreographie von Reinhild Hoffmann ins Spiel, die das Oratorium szenisch interpretieren und dabei auch den Chor in seinen Bewegungen einbeziehen. Während sie am Anfang eher im Hintergrund bleiben gestalten sie zusammen mit dem Chor eine hochdramatische Verhaftungsszene.

John Neumeier hat in Hamburg vorgemacht, wie man Bachs Oratorien tanzen kann, aber hier steht eindeutig die Musik Beethovens im Vordergrund, gesungen von den drei hochkarätigen Solisten Kai Kluge als Christus, Ilse Eerens als Seraph und Seokhoon Moon als Petrus, dem von Marco Medved bestens einstudierten Chor und Extrachor der Oper Bonn und begleitet vom Beethoven-Orchester unter Dirk Kaftan. Das Bewegungstheater hat hier eindeutig dienende Funktion.

Die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer mit langen japanischen Hakamas, einer Art weite Hosenröcke für die Tänzer, Petrus und Christus, Brustpanzer und Helmen für die Krieger, einem strahlend blauen Samtkleid für den Seraph und Alltagskleidung in Grau-Tönen für den Chor stellen einen zeitlosen Bezug her.

Wichtiges Bühnenelement ist das Buch, etwa 2 m breit und 3 m hoch, aus dessen Seiten Seraph und Petrus erscheinen. Es liegt zu Beginn geschlossen auf der Bühne, wird dann aber von den Tänzerinnen und Tänzern aufgerichtet und aufgeblättert.

Ein Satz aus dem Heiligenstädter Testament wird übrigens zur Ouvertüre eingeblendet: „Dauernd hoffe ich, soll mein Entschluss sein, auszuharren bis es den unerbittlichen Parzen gefällt, den Faden zu brechen“, und ein weiterer Auszug wird vor dem triumphierenden Schlusschor „Welten singen Dank und Ehre dem erhab´nen Gottessohn…“ von Holger Falk gelesen.

Im so genannten „Chandos-Brief“ formuliert Hugo von Hofmannsthal 1902 den Verlust seiner Fähigkeit, mit Sprache, vor allem mit Lyrik, seine Gefühle auszudrücken und die Welt zu beschreiben. Der Komponist Manfred Trojahn hat diesen zentralen Text zur Sprachkrise des 20. Jahrhunderts vertont.

Es sind drei Zeitebenen, die Schmidt-Futterer auch im Kostüm verdeutlicht: nämlich der Autor Hugo von Hofmannsthal am Beginn des 20. Jahrhunderts im schwarzen Anzug, der sich außer Stande sieht, weiter Lyrik zu schreiben, der fiktive Autor Lord Chandos mit einem Renaissance-Wams, der im 17. Jahrhundert an seinen älteren Freund Francis Bacon eine Brief über eine eben solche Krise schreibt und der Sänger, der heute auf der Bühne steht und die Gefühle der Kunstfigur zum Ausdruck bringt.

Die szenische Umsetzung ist denkbar schlicht, abgesehen von dem liegenden Buch mit einem purpurnen Leseband, das von Chandos auch mal aufgeklappt wird, hereingewehten Blättern, der Projektion barocker Aktgemälde und Licht- und Schatteneffekten steht der Sänger die ganzen 40 Minuten alleine auf der Bühne.

Trojahn hat den Monolog weitgehend kammermusikalisch instrumentiert, macht aber auch in Form von schrillen Einwürfen vom großen Orchester Gebrauch. Die Textverständlichkeit ist hervorragend, weil Trojahn die Singstimme, die am Schluss in einer kritischen Phase zur Sprechstimme wird, nie zudeckt. Das Streichquartett der Stimmführer des Beethovenorchesters, das in wesentlichen Phasen den Gesang begleitet, wird vom Intendanten bei der Premierenfeier ganz besonders gelobt. Das Beethoven-Orchester zeigt unter der straffen Leitung seines GMD Dirk Kaftan in beeindruckender Weise, dass es auch Musik der Zeit interpretieren kann.

Inhaltlich ist der Text sehr anspruchsvoll, er erinnert in seinen Metaphern an den Monolog der Klytämnestra „Ich habe keine guten Nächte …“ aus „Elektra“, dem Theaterstück Hugo von Hofmannsthals, das Richard Strauss vertonte. Tatsächlich hat Hofmannsthal kurz nach dem Chandos-Brief die Kooperation mit Richard Strauss begonnen, mit dem er unter anderem „Elektra“, den „Rosenkavalier“, „Arabella“, „Ariadne auf Naxos“ und „Die Frau ohne Schatten“ schuf, Lyrik hat er nie wieder publiziert.

Vor allem Germanisten, die mit der literarischen Vorlage vertraut sind, bemerken, dass die Erweiterung durch Trojahns Vertonung und durch die szenische Realisierung im Bühnenbild und in der Personenführung von Reinhild Hoffmann die Aussagen schärft und besser verständlich macht. „Ich sehe diesen Menschen vor mir, wie er sich windet, um in diesen verschnörkelten, hochkomplexen Wortkaskaden sein Problem zu formulieren“, so der Komponist Manfred Trojahn. Großes Lob verdient der als Liedsänger neuer Musik profilierte Holger Falk, der diesen 40 Minuten langen Monolog souverän und mit großer Spannung gestaltet, auch, indem er seine Kleidung immer mehr derangiert und scheinbar orientierungslos im Halboval der Bühne herumtigert.

Phasenweise nutzt Trojahn auch das große Orchester, und in der Tonsprache bleibt er sich treu. Der beeindruckenden Liste seiner Kompositionen, besonders den Opern „Enrico“ und „Orest“ hat er die längste Briefszene der Musikgeschichte hinzugefügt.

Reinhild Hoffmann und Dirk Kaftan haben hier ein neues Gesamtkunstwerk geschaffen, das die Ertaubung Beethovens, konkretisiert im Heiligenstädter Testament, die Sprachkrise des 20. Jahrhunderts, konkretisiert in „Ein Brief“, und das Oratorium „Christus am Ölberge“, das Christus als Mensch in einer existenzielle Lebenskrise zeigt, zu einem beeindruckenden Theaterabend macht.

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Die Premiere wurde aufgezeichnet und wird vom Deutschlandfunk Kultur am 15. Februar 2020 um 19.05 Uhr gesendet. Eine weitere Ausstrahlung gibt es am 8.April 2020 um 20.04 Uhr im SWR2 Abendkonzert.

Ursula Hartlapp-Lindemeyer, 11.2.2020

Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN

Bilder © Thilo Beu