Bonn: „Fidelio“

01.01.20

Halt! Aufhören! Ich will hier raus!

Mit einem Festakt am 16. Dezember 2019 haben in Bonn offiziell die Jubiläumsfeierlichkeiten zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven begonnen. Im Rahmen des ausgerufenen Beethoven-Jahres finden bundesweit eine große Zahl von Veranstaltungen statt, um das Werk dieses großen Komponisten zu würdigen. Besondere Aufmerksamkeit gilt in diesem Zusammenhang der ersten Fidelio-Inszenierung des Kalenderjahres 2020, die am 01.01.20 in der Geburtsstadt des Komponisten ihre Premiere feierte.

Eine Gruppe von kurdischen Männern und Frauen steht vor dem Eingang der Oper und hält Plakate mit Portraits von Familienangehörigen hoch, die sich als Gefangene in türkischen Gefängnissen befinden, und für deren Solidarität und Freilassung sie sich einsetzen. Vor dem Hintergrund, dass in wenigen Minuten eine Oper Premiere hat, die Freiheit und Treue als Hauptthemen hat, ein denkwürdiger Anlass. Zu allen Zeiten scheint es Menschen zu bedürfen, die sich für die Befreiung Inhaftierter einsetzen; in der folgenden Oper wird es Leonore sein – als Mann Fidelio verkleidet – die ihren Gatten Florestan aus dem Gefängnis befreit. Dabei wird mit dem sprechenden Namen Fidelio wird auf die unerschütterliche Treue (lat. „fidelis“) Leonores angespielt.

Fidelio ist die einzige Oper von Ludwig van Beethoven in zwei – bzw. in der Urfassung unter dem Titel Leonore drei – Akten, die er auf Anregung des Textdichter der Zauberflöte, Schikaneder, komponiert hat. Das Libretto schrieben Joseph Sonnleithner, Stephan von Breuning und Georg Friedrich Treitschke; als Vorlage diente ihnen die Oper Léonore, ou L‘amour conjugal (1798; Libretto: Jean Nicolas Bouilly, Musik: Pierre Gaveaux). Die Uraufführung der ersten Fassung des Fidelio fand am 20. November 1805 am Theater an der Wien statt, wie auch die der zweiten Fassung am 29. März 1806; die der endgültigen Fassung am 23. Mai 1814 im Wiener Kärntnertortheater. Schikaneder hatte bereits früher versucht, Beethoven zur Komposition einer Oper zu motivieren, aber die damals in Wien verbreiteten Zauber- und Maschinenpossen interessierten den Komponisten nicht. Erst die klugen und kunstsinnigen französichen Opern der Revolutionsepoche konnten seine Aufmerksamkeit wecken. Die Botschaft von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit fiel bei Beethoven auf fruchtbaren Boden.

Die im Jahrzehnt der Französischen Revolution aufkommenden Rettungs- und Befreiungsopern spiegeln die gesellschaftliche Unsicherheit während der Revolutionswirren im unerfüllten Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit. In ihr sah Beethoven die Möglichkeit, die gegen jede Tyrannei gerichteten Prinzipien durch die Rettung eines unschuldigen Helden aus höchster Not zum Ausdruck zu bringen. Damit war Beethoven der erste wirklich politische Komponist der Musikgeschichte.

Aber auch die Entstehungs- und Aufführungsgeschichte des Werkes stand unter den politischen Bedingungen der Zeitläufe. Die Uraufführung hatte sich aufgrund von Schwierigkeiten mit der Zensur verzögert, so dass sie erst eine Woche nach dem Einzug französischer Truppen in Wien erfolgen konnte. Der Adel und Teile des Bürgertums waren aus Wien auf Land geflüchtet, so dass vor allem französische Soldaten im Publikum sassen. Dadurch fehlte Beethoven ein verständiges Publikum.

Erst nach dem Preßburger Vertrag von 1806, als sich das Leben in Wien wieder normalisierte, konnte die Oper revidiert werden. Die Grundidee des Werkes wurde stärker verdeutlich, nämlich die Überhöhung der konkreten edlen Tat Leonores ins Allgemein-Menschliche.

Die modellhafte Welt von Fidelio ist ein einziges, großes Gefängnis. Das Theater Bonn und das Inszenierungsteam um Regisseur Volker Lösch greift vor allem den politischen Aspekt der Oper auf, und exemplifiziert in am Beispiel von aktuellen Geschichten von politischen Gefangenen in der Türkei und deren Angehörigen. Fidelio ist eine Nummernoper mit gesprochenen Dialogen. Schon Wieland Wagner beispielsweise brachte 1954 in Stuttgart eine Fassung heraus, in der sämtliche Dialoge bis auf das Melodram in der Kerkerszene gestrichen und durch neue Texte ersetzt worden waren.

In der bonner Inszenierung ist die Türkei das aktuelle, europäische Beispiel für einen Staat, in dem Regimegegner verhaftet werden und durch eine Willkürjustiz im Gefängnis verschwinden. Mit dieser Inszenierung wird sich konkret für die Freilassung von Ahmet Altan, Hozan Canê, Gönül Örs, Soydan Akay und Selahattin Demirtaş eingesetzt. Als Zeitzeugen treten u.a. Dogan Akhanli, der drei Mal in türkischen Gefängnissen war und mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet wurde, sowie Hakan Akay auf, dessen Bruder Selahattin als wichtigster politischer Herausforderer des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan gilt und wegen angeblicher Terrorunterstützung seit über drei Jahren im Hochsicherheitstrakt in Edirne unrechtmäßig, so 2018 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geurteilt, inhaftiert ist.

Das Publikum findet beim Betreten des Zuschauersaals einen offenen Bühnenraum mit ungewöhnlichem Setting vor. Das Orchester ist am vorderen Bühnenrand platziert, als handele es sich um eine konzertante Aufführung. Dahinter befindet sich ein großer leerer Raum ganz in hellgrüner Farbe strahlend. Die zahlreich über die Bühne getragenen Kammeras lassen vermuten, dass es sich um ein Studioset handelt, in dem mit Greenscreen-Technik gearbeitet wird. Hektischen Probengeschehen auf der Bühne vermittelt den Eindruck eines work-in-progres. Am rechten Bühnenrand ein Tisch mit ca. 10 Stühlen. Später senkt sich eine Projektionsfläche vom Schnürboden herab.

Dirk Kaftan, in dessen Händen die musikalische Leitung des Abends liegt, dirigiert die Ouvertüre mit einer Kraft und einer Wut, als wolle er jede Note aus dem Beethoven Orchester Bonn herausprügeln. Nach der Ouvertüre wird das Orchester in den Orchestergraben abgesenkt, und wir bekommen einen freien Blick auf das Bühnengeschehen. Kaftan beruhigt sich ein wenig, und wir erkennen, dass das Orchester auch ohne Gewaltandrohung zu spielen bereit ist, und zwar auf höchstem Niveau.

Es ist viel, was dem Publikum geboten wird. Manchmal ist es etwas zu viel. Auf der herabgesenkten Leinwand werden teils vorgefertigte Filmsequenzen gezeigt, die das Leben der Kurden in der Türkei, Auftritte des Diktators Recep Tayyip Erdoğan, Freiheitsdemonstrationen kurdischen Friedensaktivisten, Militärparaden, Machtdemonstrationen und andere Szenen zeigen. Zu anderen Zeiten wird das Bühnengeschehen im Greenscreen-Bereich oder am Gemeinschaftstisch gefilmt und projiziert. Im Bereich der Green-Box werden die gesanglichen Passagen aufgeführt, und in die verschiedensten Handlungswelten eingefügt. In den Passagen der gesprochenen Dialoge sprechen Zeitzeugen über die Erfahrungen und Hintergründe ihrer eigenen Verhaftungen in der Türkei sowie über das Leben ihrer Angehörigen, die sich immer noch in türkischer Geiselhaft befinden. Auch die deutsche Haltung zu verschiedenen politischen Fragen, so z.B. dem türkischen Völkermord an den Armeniern, dem vorgeblichen Staatsputsch, der immer wieder als von Erdogan inszeniertes Geschehen diskutiert wird, und der im die Möglichkeit gab, jede Form der Opposition zu unterdrücken. Ganz aktuell auch die die völkerrechtswidrige Annexion kurdischer Gebiete im Irak, auf die es von europäischer Seite keine ausreichende Resonanz gab. Im Gegenteil: Es entsteht weiterhin der Eindruck, Erdogan könne mit seinen Drohungen in der Flüchtlingsfrage seine Interessen entgegen jeder Rechtsstaatlichkeit auch gegenüber der Europäischen Union durchsetzen.

Vier Ebenen werden dem Publikum angeboten, die teilweise weit über Beethovens Opern-Aussagen hinaus gehen, ihnen andererseits aber immer verpflichtet bleiben:

⁃ Die Ebene der Leinwandprojektionen

⁃ Die Handlungsebene der Green-Box

⁃ Das Geschehen am Tisch

⁃ und nicht zuletzt das musikalische Geschehen aus dem Orchestergraben. Hier hören wir – ohne Wenn und Aber: Beethoven.

Ein Moderator, Matthias Kelle, verwebt und verbindet die verschiedenen Ebenen miteinander. Jeder Zuschauer entscheidet sich für seine eigenen Sicht der Dinge – muss sich sogar entscheiden, da ein Gesamtbild der Vielzahl der unterschiedlichen Bild- und Handlungsebenen kaum auf einmal zu erfassen sind – oder schließt einfach die Augen. Und dann bleibt die Musik Beethovens.

Thematisch ist diese Verknüpfung von Beethovens Politik-Oper und tagesaktuellen politischen Zusammenhängen hoch spannend. Sehr zu loben, dass das Produktionsteam, dass sich von eingehenden und starken Bildern nicht scheut, keiner Tendenz einer einseitigen und gefühlsbetonten Vereinfachung nachgibt. Die Komplexität der individuellen Erfahrungen, die von den verschiedenen Zeitzeugen berichtet wird, kann jedoch auch vereinzelt zu Längen und Ermüdungen führen. Aber auch wenn die Sprecher um Präzision und Emotionsfreiheit ihrer Schilderungen bemüht sind, können die Inhalte die Zuhörer doch vereinzelt emotional überfordern. Als Süleyman Demirtaş von den an ihm verübten Folterungen berichtet, schreit eine ältere Dame im vorderen Publikumsbereich verzweifelt auf: Halt! Aufhören! Ich will hier raus! Wenig später verlässt sie zusammen mit ihrem Mann kopfschüttelnd den Saal. Es darf einem auch einmal zu viel werden. Jeder hat das Recht, ja regelrecht die Pflicht, für seine eigenen Bedürfnisse einzustehen. Wir und die Dame sollen glücklich sein, dass wir alle die Möglichkeit zur freien Entscheidung haben. Wir hören im Laufe des Abends von vielen Menschen, die diese Freiheit nicht haben.

Süleyman Demirtaş berichtet im Verlauf des Abends, dass er nach seiner Haftentlassung nach Deutschland gekommen sei. 50 mal sei er inzwischen umgezogen. In Köln allein, wo er inzwischen lebe, seien es 30 Umzüge gewesen. Wohin auch immer er gezogen sei, er habe nie eine Heimat gefunden. Bis heute fände er keine Ruhe. Hier schließt sich dann der Kreis zu Beethoven, der bekanntermaßen in Wien ebenfalls in 30 verschiedenen Wohnungen gelebt hatte, bis dass der Tod seiner unruhigen Seele heilenden Balsam gab. Erstaunlich, wie groß auch nach 200 Jahren die Parallelen sind…

Großartig die musikalische Besetzung des Premierenabends, nach den musikalischen Partien immer wieder reichlich mit Szenenapplaus bedacht.

Aufgrund der Menge der Inhalte und der Bilderflut wird der Abend aber eher als politisch hochinteressantes, zeitgenössisches Musiktheater in Erinnerung bleiben, als ein musikalisches Sängerfest. Tosender, langanhaltender Beifall, Standing Ovations und großer Beifall für eine herausragende Leistung aller Beteiligten. In der Pause hatten sich die Reihen der ausverkauften Reihen bereits ein wenig gelichtet; aber auch unter den standhaften Besuchern brach im laufenden zweiten Akt bereits ein kurzer Streit im Publikum über die Inszenierung aus. Eine lebhafte Auseinandersetzung, die sicherlich auch in den Folgevorstellungen nicht beendet sein wird. Dementsprechend mischten sich in den Abschlussapplaus auch vereinzelte Buh-Rufe

Ingo Hamacher, 3.1.2019

Fotos (c) Thilo Beu

Credits

Rocco, Kerkermeister: Karl-Heinz Lehner

Don Fernando, Minister: Martin Tzonev

Don Pizarro, Gouverneur eines Staatsgefängnisses: Mark Morouse

Florestan, ein Gefangener: Thomas Mohr

Leonore, seine Gemahlin unter dem Namen "Fidelio": Martina Welschenbach

Marzelline, Roccos Tochter: Marie Heeschen

Jaquino, Pförtner: Kieran Carrel

1. Gefangener: Jonghoon You

2. Gefangener: Enrico Döring

Chor des Theater Bonn, Extrachor des Theater Bonn, Statisterie des Theater Bonn, Beethoven Orchester Bonn

Moderator: Matthias Kelle

Kamera: Krzysztof Honowski

Zeitzeugen: Hakan Akay, Dogan Akhanli, Süleyman Demirtas, Agit Keser, Dilan Yazicioglu

Musikalische Leitung: Dirk Kaftan

Inszenierung: Volker Lösch

Bühne: Carola Reuther

Kostüme: Alissa Kolbusch

Videodesign: Christopher Kondek

Licht: Max Karbe

Dramaturgie: Stefan Schnabel

Choreinstudierung: Marco Medved

Weitere Termine:

04.01.; 16.01.; 24.01.; 02.02.; 09.02. (16:00); 15.02.; 14.03.; 27.03.2020