Alexander Puschkins Versroman, 1833 erschienen, ist eine Milieustudie des russischen Adels in Sankt Petersburg und auf dem Land um 1820, und handelt von Menschen, die so reich sind, dass sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen, sondern wie der 20-jährige Eugen Onegin als Müßiggänger oder, wie der 18-jährige Wladimir Lenskij als Dichter, von den Erträgen ihres geerbten Vermögens leben. Puschkin hat mit „Eugen Onegin“ das russische Nationalepos geschaffen, das erste literarische Werk, das in russischer Sprache erschien. Die Oberschicht sprach Französisch, Amtssprache war Französisch, und Puschkin hat Russisch, das als Schriftsprache kaum vorkam, von seiner Kinderfrau gelernt und ist mit seinem Versroman sprachbildend gewesen.
Mit sicherem Instinkt für einen operntauglichen Stoff griff Tschaikowsky mit seinem Librettisten Konstantin Schilowskij die Episode um Eugen Onegins Beziehung zu Tatjana Larina heraus, in der mit zwei großen Ballszenen und beeindruckenden Chorszenen der Kontrast zwischen dem feudalen Sankt Petersburger Stadtadel und dem etwas schlichteren dörflichen Landadel aufgegriffen wird, und in der Tatjana, Tochter einer verarmten Witwe, den absoluten Tabubruch begeht, einem Mann in einem Brief ihre schwärmerische Liebe zu gestehen. Dramatischer Höhepunkt ist das Duell von Onegin und Lenskij, das aus nichtigem Anlass vom Zaun gebrochen wird, und in dem Onegin eiskalt auf seinen Freund zielt und abdrückt. Die Schuld, die er damit auf sich geladen hat, bedrückt ihn, und er ist genötigt, das Land zu verlassen, weil Duelle auch schon 1820 strafbar waren, obwohl sie zum Ehrenkodex des Adels gehörten. Nach der Uraufführung am 29. März 1879 in Moskau trat das Werk einen Siegeszug durch Europa an. Die deutsche Erstaufführung dirigierte Gustav Mahler 1892 in Hamburg. Damals bis in die 1960-er Jahre wurde „Eugen Onegin“ im deutschen Sprachraum in deutscher Sprache gesungen, in Bonn natürlich in Russisch mit deutschen und englischen Übertiteln.
Der 1983 in Moskau geborene preisgekrönte Regisseur Vasily Barkhatov hat in Bonn bereits mit großem Erfolg „Siberia“ von Umberto Giordano inszeniert und kann als Experte für das russische Repertoire gelten. „Eugen Onegin“ brachte er bereits in Moskau, Minsk, Oslo, Litauen und Wiesbaden auf die Bühne, wobei er jedes Mal an den Details feilte.
Zusammen mit Olga Shaishmelashvili (Kostüme) und Zinovy Margolin (Bühnenbild) hat er die Handlung in die zeitlose Moderne verlegt. Die Kostüme legen nahe, dass man sich am Beginn des 20. Jahrhunderts befindet. Die Bühne ist eine verschiebbare verglaste Terrasse, und wenn sich die Rückwand öffnet, wird eine schiefe Ebene sichtbar, auf der zu den Walzerklängen des zweiten Akts Schlitten gefahren wird. Das Bild des dritten Akts, der Jugendstil-Wartesaal eines Sankt Petersburger Bahnhofs, bekam jedes Mal Szenenapplaus.
Barkhatov betont die Beziehungen zwischen den Personen. Tatjanas emotionaler Brief erreicht den gelangweilten Müßiggänger Onegin, der mit der romantischen Schwärmerei eines jungen Mädchens gar nichts anfangen kann. Eiskalt weist er sie ab, und sie bleibt tief beschämt zurück.
Der zweite Akt spielt im Winter an Tatjanas Namenstag, dem 25. Januar. Weil er ihr aus dem Weg gehen möchte, wendet Onegin sich auf dem Ball der Larinas so intensiv ihrer Schwester Olga, der Verlobten seines Freundes Lenskij, zu, dass es zu einer großen Eifersuchtsszene kommt. Der gekränkte Lenskij fordert Onegin zum Duell. Onegin will das vermeiden, aber es kommt zu einem Handgemenge bei dem Lenskij durch Onegins Schuld stürzt und stirbt. Im dritten Akt trifft Onegin nach mehreren ruhelosen Jahren im Ausland die zur Dame gereifte Tatjana wieder, die ihn zwar immer noch liebt, aber nicht bereit ist, für ihn ihren wesentlich älteren Mann, Fürst Gremin, der ihr gesellschaftliche Anerkennung verschafft, zu verlassen.
Das Duell, das dem Streit Onegins mit Lensky folgt, findet nicht statt, es wird aber durch die Chorsänger, die die beiden immer mehr einkreisen, der soziale Druck auf Onegin und Lenskij gezeigt, sich dem Zweikampf zu stellen.
Musikalisch bleibt kein Wunsch offen. Das bestens aufgelegte Beethoven-Orchester unter der Leitung von Hermes Helfricht – am 25. April Michael Güttler – spielte den Walzer im zweiten Akt und die Polonaise im dritten Akt als Bilder für den rustikalen Charme der Landbevölkerung und das steife Ritual des höfischen Tanzes mit satten Streichern, brillanten Blechbläsern und elegischen Holzbläsern. Der von Marco Medved einstudierte Opernchor verkörperte in perfekt choreographierten Massenszenen mit individuellen Kostümen die einfache Landbevölkerung und die feudale städtische Gesellschaft.
Eigentlich müsste die Oper „Tatjana“ heißen, denn ihr Motiv kommt in der Musik am häufigsten vor, und sie macht eine Entwicklung durch. Tatjanas Briefszene „Längst liebt´ich Dich, eh´ich Dich sah“, in der Anna Princeva als junges Mädchen ihre erwachte Liebe zu Onegin mit lyrischer Intensität und absolut klangschön schildert, ist eins der Highlights der romantischen Opernliteratur. „Wer da nicht mitfühlt, besitzt kein Herz,“ schreibt Bernhard Hartmann am 4. März 2024 im Bonner Generalanzeiger in seiner Rezension der Premiere. Auch die Einspringerin Elena Bezgodkova ist russische Muttersprachlerin und bekam für die 15 Minuten lange „Briefszene“, die in einem Sommerregen gipfelt, Szenenapplaus. Tatjana ist vier Jahre später die gesellschaftlich geachtete Gattin des Fürsten Gremin, und weist Onegins Liebe souverän zurück, obwohl sie zugibt, ihn noch zu lieben.
Einen idealen Lenskij verkörpert Santiago Sánchez mit einem perfekt geführten lyrischen Tenor. Seine Arie „Was mag der neue Tag mir bringen,“ ist sicher der Höhepunkt von Lenskijs Dichtkunst. Sein Tod wegen einer Eifersuchtsszene macht immer noch betroffen, obwohl der Knall des Schusses als Effekt in Barkhatovs Inszenierung fehlt.
Der Chor kommentiert: „Er tut gebildet, eitel ist er, und selbst den Handkuss, den vergisst er, Freimaurer soll er auch noch sein, wie andre Wasser, trinkt er Wein,“ so tuscheln die Damen beim Ball der Larinas über Eugen Onegin, der Tatjanas Liebe verschmäht, und der später in die feudale Gesellschaft, zu der Tatjana als Fürst Gremins Gattin Zugang gefunden hat, nicht eingelassen wird. In der Premiere war der wunderbare Giorgos Kanaris der von der Gesellschaft beargwöhnte Außenseiter mit weltmännischem Gehabe, am 25. April 2024 erlebten wir den jungen Baritons Carl Rumstadt in jugendlichem Leichtsinn, der zur Eskalation führte, und in anrührendem Liebesschmerz. Barkhatovs Inszenierung machte die Ausgrenzung Onegins durch die Gesellschaft mit dem Auftritt einer misstönend spielenden Blaskapelle vor dem Beginn der Polonaise im 3. Akt besonders deutlich. Die Außenseiterposition Onegins wird auch dadurch offensichtlich, dass er in den Empfang, der in der festlichen Atmosphäre von Gremins Palast stattfindet, vom Wachpersonal zunächst gar nicht eingelassen wird. Der Chor kommentiert kritisch: „Ist das Onegin? Was treibt er jetzt? Ist er jetzt anders, sagt, oder spielt er noch den Narr´n? Lasst sehen, in welcher neuen Rolle tritt er auf? Spielt er den Kritiker? Spielt er den Zyniker? Den Weltmann? Den Patrioten? Den Dämon? Oder was? Was hinter seiner Maske steckt, wann wird man das wohl je erfahren?“
„Ganz unbeschwert und heiter, das war ich nie mehr, seit er starb, seit ich am Freund zum Mörder ward … zu ew´ger Flucht bin ich verdammt,“ singt Onegin und erweist sich damit als Seelenverwandter des Wanderers aus Schuberts „Winterreise“ und als Byronscher Held. Ein Byronscher Held ist einer, „der die Leidenschaft der romantischen Künstlerpersönlichkeit mit dem Egoismus eines auf sich selbst fixierten Einzelgängers verbindet. Der „Byronic Hero“ ist ein Außenseiter und Rebell, dem es nicht um gesellschaftliche Veränderungen, sondern um die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse geht,“ wie man dem Wikipedia-Artikel über Lord Byron entnimmt.
Besonders großen Szenenapplaus bekam Pavel Kudinov, der mit seinem vollen Bass einen sehr rüstigen Fürst Gremin verkörperte und dessen Arie: „Du kennst der Liebe Macht auf Erden,“ als Statement des Fürsten gesungen wird, wer jetzt der Mann an Tatjanas Seite ist. Die Abreise von Tatjana und Gremin mit dem Zug am Ende des dritten Akts macht unmissverständlich klar, dass Onegin sie nicht überzeugen konnte, ihren Mann für ihn zu verlassen.
Eine sehr temperamentvolle und lebenslustige, aber auch tief betroffene Olga mit einem weißen Tutu auf einem Fahrrad war Ensemblemitglied Charlotte Quadt. Mit Eva Vogel als Mutter Larina, Rena Kleefeld als Amme Filippewna, Peter Mertes als Franzose Triquet in einem rosa Kleid, Christopher Jähnig als Saretzkij und Dong Wook Lee als Vorsänger waren auch die kleineren Partien typgerecht besetzt.
Hermes Helfricht (17. März 2024) bzw. Michael Güttler (25. April 2024) gestalteten mit dem Beethoven Orchester, dem Chor der Oper Bonn und dem hochkarätigen Ensemble einen Opernabend, der dank Tschaikowskijs süffiger Musik und der durchdachten Inszenierung die „Lyrischen Szenen“ zu einem ergreifenden Erlebnis machte
Ursula Hartlapp-Lindemeyer, Mai 2024
Dank an unsere Freunde vom Opernmagazin
Eugen Onegin
Peter Tschikowsky
Oper Bonn
17. März 2024 / 24. April 2024
Inszenierung: Vasily Barkhatov
Dirigate:
Hermes Helfricht (17. März 2024)
Michael Güttler (25. April 2024)
Beethovenorchester Bonn