Premiere am 16.09.2018
Zeitreise durch die Welt- und Theatergeschichte
Das ist wirklich mal ein originelles Konzept, mit dem sich Regisseur Paul-Georg Dittrich Beethovens einziger Oper „Fidelio“ genähert hat. Er nimmt den Zuschauer im 1. Akt mit auf eine Zeitreise durch die Welt- und Theatergeschichte und macht diese an früheren, historischen Inszenierungen dieser Oper fest. Dabei verknüpft er das Weltgeschehen mit dem Ge- und Missbrauch, und mit der Instrumentalisierung der auch gern zu Repräsentationszwecken aufgeführten Oper. Das klingt zunächst auch nach einer Instrumentalisierung, aber Dittrich tastet den Gehalt und die Handlung des „Fidelio“ in keiner Sekunde an. Es bleibt Beethovens „Fidelio“. Einen ähnlichen Ansatz hatte Stefan Herheim in seinem Bayreuther „Parsifal“ verfolgt, der von der Wagner-Zeit bis zum Deutschen Bundestag führte.
Die Stationen bei Dittrich sind das Kärntner-Theater in Wien (1814), das Theatre-Lyrique Paris (1860), das Werktätigen-Theater Leningrad (1928), das Stadttheater Aachen (1938), das Deutsche Opernhaus Berlin (1945), das Stadttheater Kassel (1968), die Semperoper Dresden (1989) und schließlich das Bremer Theater (1997).
Leonore steht von Anbeginn auf der Bühne. Mit ihren Stiefeln, der superkurzen Rockhose einer teilweise schulterfreien Jacke passt sie in kein Klischee. Eine Verkleidung als Mann findet nicht statt. Sie befindet sich bei der Suche nach ihrem Florestan in permanenter Hochspannung und fungiert auch als eine Art Spielmacherin, wenn sie die Haltung von zwei leblosen Figuren arrangiert, die sich dann als Marzelline und Jaquino entpuppen. Oder wenn sie ungeduldig das Bühnenbild verschieben will, um zum nächsten Schauplatz zu gelangen.
Diese Schauplätze werden in den Bühnenbildern von Lena Schmid eindrucksvoll stilisiert. Da blitzt die Biedermeier-Zeit (1814) auf, das Theatre-Lyrique wirkt mit ihren postkartenartigen Standbildern wie ein Gruß aus vergangenen Zeiten, bei Leningrad wird die Szene mit dem die Treppen von Odessa herunterrollenden Kinderwagen aus dem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ zitiert. Aachen führt in die NS-Zeit. Auf der Bühne sind Bänder mit der Aufschrift „Zum Geburtstag“ zu sehen. Gemeint ist die von Karajan geleitete „Fidelio“-Aufführung am 20.4.1938 zu Hitlers Geburtstag. Kassel erinnert an die APO-Zeit mit einem Hörsaal und Studenten. Und schließlich wird die Bremer Kresnik-Inszenierung mit Aldi-Tüten und den Helmen der Arbeiter von der damals pleitegegangen Vulkan-Werft zitiert.
Den Bezug zur Zeitgeschichte stellt Dittrich über diverse Videos her. Lenin, Stalin, Hitler, Trümmerfrauen, Studentenunruhen und der Mauerfall – all das flimmert in guter Dosierung über die Leinwand. Die Dialoge werden durch gleich mehrfach wiederholte Satzfetzen, ersetzt die aus diversen Platteneinspielungen zusammengeschnipselt wurden. So weit, so überzeugend.
Der 2. Akt kann diese Spannung nicht halten. Ein Teil der Zuschauer sitzt wie beim Abendmahl an einem Tisch, auf dem sich Florestan befindet – ein Gefängnis der besonderen Art. Mitunter sind die Solisten akustisch unbefriedigend im Hintergrund postiert. Nach der Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 lässt Dittrich Mikrofone ins Publikum halten und Szenenbeschreibungen sowie die Worte des Ministers ablesen. Eine überflüssige Aktion. Für Leonores Melodram schwebt ein Klavier vom Bühnenhimmel. Sie wird daran von Florestan begleitet, während das Orchester schweigt. Zum Finale sind alle Akteure, also Chor und Solisten, im zweiten Rang versammelt. Auf der Bühne passiert dann nichts mehr.
Im Zentrum steht Nadine Lehner als Leonore, die ihre Partie mit stählerner Härte und einer unglaublichen Intensität singt. Eine tolle Leistung! Der Tenor von Christian-Andreas Engelhardt wird immer kraftvoller und substanzreicher. Er bewältigt den Florestan sehr achtbar, stößt aber mitunter auch an seine Grenzen. Claudio Otelli gibt den Don Pizarro als furchterregenden und brutalen Machtmenschen mit erzener Stimmgewalt.
Christoph Heinrich zeigt mit schlankem Bass vor allem die freundlichen Seiten des Rocco. Als Marzelline und Jaquino können Marysol Schalit (mit kleinen Schärfen) und Joel Scott mit jugendfrischem Tenor ihre Partien gut erfüllen. Daniel Ratchev ist als Minister nicht auf der Bühne sondern nur vom Rang zu erleben. Der von Alice Meregaglia einstudierte Chor leistet Großartiges, wenn auch das Jubelfinale etwas zuviel an Klangwogen beschert.
Für eine durchweg bewegende Wiedergabe sorgt Yoel Gamzou am Pult der ausgezeichnet spielenden Bremer Philharmoniker. Seine Dynamik und seine Tempi sind schwindelerregend. Die Leonoren-Ouvertüre ist bei ihm „große Sinfonie“. Der Spannungsbogen wird durchgängig gehalten.
Wolfgang Denker, 17.09.2018
Fotos von Jörg Landsberg