Bremen: „Jakob Lenz“

Wolfgang Rihm

Premiere am 30.01.2020

Sezierung einer Seele

Dieser Opernabend mit Jakob Lenz von Wolfgang Rihm wirkt lange nach und dürfte sich bei den meistern Zuschauern tief ins Gedächtnis gebrannt haben. Und das aus mehreren Gründen: Zum einen ist da die singuläre Leistung von Claudio Otelli in der Titelpartie, zum anderen sind es die Inszenierung von Marco Štorman und die Bühnengestaltung von Jil Bertermann, die für beklemmende, intensive Hochspannung von der ersten bis zur letzten Sekunde sorgen. Und es ist natürlich die Begegnung mit dem ungewöhnlichen Werk von Wolfgang Rihm, das die Bezeichnung Kammeroper trägt, aber die Anforderungen und Qualitäten eines Schauspiels mit denen einer Oper verbindet.

Jakob Lenz (1751-1792) war ein Sturm-und-Drang-Dichter. Sein Vater war Pfarrer und auch Lenz studierte zunächst Theologie, brach das Studium aber ab, was zu einem Bruch mit dem Vater führte. Lenz machte die Bekanntschaft von Goethe und gewann zeitweilig dessen Freundschaft. Der psychische Zustand von Lenz verschlechterte sich. Deshalb besuchte er den Pfarrer Oberlin, um sich dort zu erholen. Oberlins Aufzeichnungen waren die Grundlage von Georg Büchners Erzählung „Lenz“, diese wiederum für Rihms 1979 in Hamburg uraufgeführte und aus dreizehn Szenen bestehende Oper.

Jil Bertermann hat auf der eigentlichen Bühne ein „anatomisches Theater“ gebaut. Dieses besteht aus steil ansteigenden Rängen in kreisrunder Anordnung und orientiert sich an dem heute noch zu besichtigenden anatomischen Theater, das 1594 in Padua gebaut wurde.

Damals wurden dort Leichen öffentlich obduziert. Bei „Jakob Lenz“ ist es die Seele der Titelfigur, die „seziert“ wird. Lenz befindet sich in einer lebensbedrohenden Krise. Die Loslösung vom Vater, der Zweifel an seinem eigenen Schaffen, die Konflikte mit der Religion und nicht zuletzt die Suche nach seiner Stellung in der Gesellschaft, von der er sich unverstanden fühlt, sind gebündelte Faktoren, die ihn dem Wahnsinn näher rücken. Und dann ist da noch seine unerwiderte Liebe zu Friedrike Brion, die er tot wähnt. Diese Friederike wird von Sibylle Bülau verkörpert und erinnert in ihrem Aussehen etwas an Hildegard Hamm-Brücher. Sie sitzt stumm im eigentlichen Zuschauerraum, ihre Erscheinung wird mittels Kamera auf eine Leinwand übertragen. Am Ende kommen Jakobs Freund Kaufmann und der Pfarrer Oberlin zu dem Schluss, dass Lenz nicht mehr zu helfen sei.

Die Bariton-Partie des Lenz ist eine Mammutaufgabe. Sie ist stilistisch ein wenig mit der des Wozzeck vergleichbar. Sie wechselt zwischen Gesang, Sprechgesang und gesprochenem Wort – mit häufigen Ausflügen in die Kopfstimme.

Claudio Otelli bewältigt diese Partie in geradezu sensationeller Weise. Sein Porträt einer zerfallenden Seele ist von atemberaubender Intensität. Da wird jede Nuance in Spiel und Stimme zum Ereignis. Seine expressive Gestaltung und seine physische Präsenz sind über die gesamte Spieldauer von 75 Minuten gefordert. Toll! Die vergleichsweise kleineren Partien von Oberlin und Kaufmann werden von dem Bassisten Christoph Heinrich und dem Tenor Christian-Andreas Engelhardt ebenfalls mit Bravour und reichem Ausdruck gestaltet.

Regisseur Marco Štorman ist das Kunststück gelungen, das an äußerer Handlung eigentlich arme Stück trotzdem zu einem Theaterabend voll berstender Spannung zu formen. Die kreisrunde Spielfläche wirkt wie eine Zirkusarena, die zwischendurch auch mit Wasser gefüllt wird. Die inneren Stimmen, von denen Lenz quälend heimgesucht wird, werden von sechs Sängerinnen und Sängern des Chors ausgefüllt. Mal erscheinen sie auf den Tribünen, mal hinter dem Orchester. Auch der Kinderchor, deren Mitglieder wie Doubles von Lenz wirken, hat symbolträchtige Aufgaben.

Rihm hat bei seiner Musik mit vielen Zitaten gearbeitet. Der Rhythmus einer Sarabande tönt auf, ebenso ein Ländler. Es gibt Anklänge an Choräle und Motetten. Sogar das Lied „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ wird zitiert.

Das von Killian Farrell geleitete Orchester besteht aus elf Musikern der Bremer Philharmoniker: Drei Celli, zwei Oboen, Kontrafagott, Fagott, Trompete, Posaune, Schlagwerk und Cembalo. Die vielschichtige Musik von Rihm wird hier optimal zum Klingen gebracht, insbesondere in den verschieden Zwischenspielen. Ein nachhaltiger und das Publikum fordernder Opernabend, den man sich nicht entgehen lassen sollte!

Wolfgang Denker, 02.02.2020

Fotos von Jörg Landsberg