Bremen: „Lady Macbeth von Mzensk“

Besuchte Vorstellung am 9. Dezember 2017

TRAILER

Neben Alban Bergs „Wozzeck“ gehört die „Lady Macbeth von Mzensk“ des damals 26jährigen Dimitri Schostakowitsch zu den Schlüsselwerken der Moderne, die sich im Repertoire der Opernhäuser behaupten können. Die Handlung beider Werke geht jeweils auf einen authentischen Gerichtsfall zurück. Nikolai Leskow war in Orjol auf den Fall der Kaufmannsfrau Katerina Ismailowa gestoßen. Seine 1856 veröffentlichte Novelle regte Schostakowitsch zu seiner zweiten Oper an. Es heißt, dass ohne Wozzeck die Lady Macbeth nicht denkbar gewesen wäre. Trotz des ähnlichen Sujets unterscheidet sich die musikalische Sprache. In ihrer Dramatik und Expressivität, aber ebenso in ihren lyrischen Passagen zielt die Musik der Lady Macbeth auf Emotionen. Über weite Strecken wird das Parodistische, Groteske betont, um im letzten Bild der Erschütterung über das Schicksal der Menschen in einem brutalen System unmittelbar Raum zu geben. Der bewegende Chor der Zwangsarbeiter kommt stilistisch den großen Volksszenen der Mussorgski-Opern nahe. Die Fallhöhe vom Satirischen zum Dramatischen verleiht dem Werk eine Tiefe, wie sie nach meinem Empfinden weder der „Wozzeck“ noch Schostakowitschs Opernerstling „Die Nase“ aufweisen.

Leskow soll mit der Novelle den Auftakt für eine Art Charakterstudie russischer Frauen beabsichtigt haben. Auch Schostakowitsch erklärte, dass sein Werk den Auftakt einer Trilogie bilden sollte, die „der Lage der Frau in den verschiedenen Epochen Russlands“ gewidmet sein sollte. Ob er dies wirklich beabsichtigte, darf bezweifelt werden. Mit Ankündigungen an politisch erwünschten Themen zu arbeiten, gewann er vielmehr Freiräume für sein Schaffen und unterlief die an ihn gerichteten politischen Erwartungen.

Es war kein Zufall, dass die 1934 erfolgreich uraufgeführte „Lady Macbeth von Mzensk“ den willkommenen Vorwand für das politische Exempel des parteioffiziellen Verrisses von 1936 bot. Mit dem berüchtigten Prawda-Artikel „Chaos statt Musik“ wurde der Siegeszug der Oper abrupt beendet und die sowjetische Musik auf einen streng reglementierten „sozialistischen Realismus“ in Abgrenzung vom bürgerlichen „Formalismus“ eingeschworen. Das Proletariat kommt in dem Werk tatsächlich schlecht weg. Schostakowitsch brach mit der Regel der russischen Oper, wonach im „Volksliedton sich äußernde Menschen entweder aus dem Volk stammen, zumindest aber ‚gute Menschen‘ seien.“ (Siegrid Neef 1987).

Die Sympathie des Komponisten galt hörbar seiner Protagonistin, einer gelangweilten und unbefriedigten Kaufmannsfrau, die drei Menschen und sich selbst ums Leben bringt (in der literarischen Vorlage waren es noch vier). Lediglich der Älteste der Zwangsarbeiter zeigt Mitgefühl. Er spricht das bittere Fazit aus „Wird denn für ein solches Leben der Mensch geboren?“ Alle anderen Figuren sind einander die Hölle. Die Köchin Aksinja wird von den Angestellten der Ismailows unter Führung des neuen Arbeiters Sergej vergewaltigt. (In der von derartigen „Vulgarismen“ bereinigten Fassung von 1964 treiben die Arbeiter mit der Köchin „rohe Späße“, indem sie versuchen, sie „in ein Fass zu stecken“). Den Tod des Patriarchen nehmen die Angestellten und auch der schließlich herbeigerufene Pope eher achselzuckend zur Kenntnis und auch das Auffinden der Leiche von Katerinas Ehemann bietet der unter dem Ausbleiben von Bestechungsgeldern leidenden Polizei den hochwillkommenen Anlass, sich zur Hochzeitsfeier der Ismailows einzuladen. Auf dem Weg in die Verbannung kennen die Zwangsarbeiter keine Solidarität – auch hier herrschen Heimtücke und das Recht des Stärkeren. Eine positive Identifikationsfigur ist in keiner der in dieser Oper vorgestellten Gesellschaftsschichten zu finden.

Dass ein solches Sujet mit der starken Betonung der Sexualität als Erlösung aus einem lieblosen Alltag und dessen musikalische Umsetzung, die sich aus unterschiedlichsten musikalischen Stilmitteln – einschließlich, Marsch, Galopp und Polka – bediente, den stalinistischen Kulturfunktionären nicht gefallen konnte, liegt nahe.

Regisseur Armin Petras verzichtet glücklicherweise auf jeglichen Sowjetkitsch, mit dem das Werk gern auf die Bühne gebracht wird – zumal es in der der Entstehungszeit der Oper kaum eine gelangweilte Kaufmannsfrau gegeben hat. Er verlegt die Handlung aus dem Russland des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart und aus dem rund 300 Kilometer südwestlich von Moskau gelegenen Mzensk in den Norden Sibiriens, nach Norilsk, einem der kältesten Orte der Welt. Die Unwirtlichkeit dieses Ortes, der 1935 von Zwangsarbeitern des stalinschen Gulag errichtet worden ist, korrespondiert mit der seelischen Kälte der Protagonisten. Katerina wird als Schwiegertochter eines russischen Oligarchen vorgestellt, der sie wie eine Leibeigene hält. Sie langweilt sich vor dem Fernseher. Materieller Wohlstand geht mit seelischer und körperlicher Grausamkeit einher.

Die zeitliche und geographische Verortung funktioniert und vermittelt eine Allgemeingültigkeit. Den Bezug zur Gegenwart Russlands oder auch allgemein zu autoritär und männlich dominierten Gesellschaften sollen die Zitate von Nadja Tolokonnikowa von Pussy Riot herstellen. Eines davon ist als Motto der Aufführung vorangestellt: „Macht haben nicht diejenigen, die über Gefangenentransporte verfügen, sondern diejenigen, die ihre Angst überwinden. Es ist ganz einfach: Hab keine Angst.“ Die Botschaften werden als Projektionen eingeblendet. Sie stören nicht, tragen aber aus meiner Sicht nichts Wesentliches zum Verständnis des Geschehens auf der Bühne bei.

Die Szene war gewissermaßen dreigeteilt. An den privaten Raum der Ismailows schließt sich nach Drehung der Bühne ein gekachelter Raum mit einer Dusche an. Oberhalb dieser Räume werden Videos – u.a. Schneetreiben, aber auch Aktionen der Protagonisten, projiziert. Daneben befindet sich eine freie Fläche, auf der ein Kinderpaar tanzt, sich Arbeiter zusammenfinden und wo sich die Erscheinung des ermordeten Boris mit seinem Sohn Sinowi trifft. Mitunter fällt es schwer, den Überblick über die gleichzeitig ablaufenden Aktionen zu behalten.

Nadine Lehner verkörpert eine beeindruckend glaubhafte Katerina Ismailowa. Sie singt und spielt die anspruchsvolle Rolle mit unglaublicher Bühnenpräsenz. Sicher beherrscht sie die verhaltenen lyrischen Passagen wie auch die dramatischen Ausbrüche. Ihr wird eine durch die Regie deutlich aufgewertete Aksinja zur Seite gestellt. Aus der Nebenrolle entwickelt die Bremer Interpretation eine Vertreterin der niederen Gesellschaftsschicht, die mit der altrussischen Tradition der Heilkraft in Berührung steht. Gestisch kommentiert sie die Handlungen der Katerina und verkörpert die einzige wirklich empathische Rolle. Der alte Zwangsarbeiter, in dessen Gestalt sich Schostakowitsch am Ende der Oper mit seinem Kommentar an das Publikum wendet, wirkte auf mich in Bremen hingegen eher distanziert.

Chris Lysack als Sergej und Patrick Zielke als Boris und auch Alexey Salyapin als schwächlicher Sinowi überzeugen ebenfalls stimmlich und darstellerisch. Die Spielfreude aller Darsteller wirkt ansteckend und vermittelt sich dem Publikum. Yoel Gamzou beherrscht das gewaltige Orchester. Ihm gelingen mitreißende Zwischenspiele und Steigerungen des Orchesters bis an die Schmerzgrenze, wobei er jedoch die Sänger nicht zudeckt. Mitunter malt er freilich mit einem etwas breiten Pinsel. Einige Details gehen im kompakten Orchesterklang unter.

Armin Petras traut der Komposition und verzichtet darauf, was die Musik detailfreudig illustriert, auf der Bühne vorzuführen. Dies empfand ich als erfreulich, da durch die optische Zurückhaltung Peinlichkeiten oder gar unfreiwillige Komik vermieden werden. Ihm gelingen eindrucksvolle Szenen. Ausgesprochen ärgerlich sind allerdings die eigenwilligen und geradezu brutalen Eingriffe in die Struktur des Werkes. Bei Barockopern können Kürzungen sinnvoll sein – bei musikdramatischen Werken des 19. und 20. Jahrhunderts verfälschen sie das Werk.

Warum man sich in Bremen entschloss, wichtige, für das Verständnis der Handlung erforderliche Szenen zu streichen und zum Teil durch gesprochene Dialoge zu ersetzen, vermag ich nicht nachzuvollziehen. Konnte man die Rollen des Popen, der Aksinja und des Polizeichefs sängerisch nicht adäquat besetzen?

Schlüsselszenen gingen dabei eher beiläufig unter, z.B. der "Ringkampf" zwischen Katerina und Sergej. Hier deutet sich bereits an, dass Katerina dem "Rudelführer" bei der Vergewaltigung der Aksinja verfallen ist, was dem Schwiegervater nicht entgeht. Die Musik, die diese Ambivalenz zwischen der Zurechtweisung Sergejs und der Faszination für ihn hörbar macht, fehlt jedoch. Gestrichen wurden u.a. die Auffindung des vergifteten Boris, die "Totenklage" der Katerina, in der Schostakowitsch das angeordnete Flehen des Volkes um einen neuen Zaren aus Boris Godunow parodiert sowie die essentiellen Chorszenen des Dritten Aktes. Eigenwillig ist die Platzierung der Pause unmittelbar nach der Passacaglia mit ihrer gewaltigen Orchesterklimax, die eigentlich vom Tod des Schwiegervaters zur Liebeszene mit dem aus dem Gewahrsam befreiten Sergej überleitet.

Diskutabel und interessant finde ich, dass Armin Petras bei der Exkulpierung der Katerina Ismailowa selbst über die spürbare und in Musik gekleidete Zuneigung des Komponisten hinausgeht. Eigentlich begeht Katerina keinen Mord – zumindest habe ich keinen gesehen. Wer das Gift unter die Pilze gemischt hat, war nicht recht zu erkennen. Wenn ich es richtig wahrgenommen habe, hätte es auch Aksinja gewesen sein können.

Katarinas Ehemann Sinowi wird wie in der Partitur als unbeholfener Schwächling gezeichnet, hier ist er überdies auf ein Beatmungsgerät angewiesen (was er offenkundig während seiner Abwesenheit bei der Inspektion der weit entfernt liegenden Mühle nicht benötigt). Dieses Handicap enthebt Katerina der nun unausweichlichen Mordtat. Als Sinowi bei der Auseinandersetzung nach seiner unverhofften Heimkehr einen Asthmaanfall erleidet, enthalten ihm die Liebenden den Griff zum rettenden Sauerstoffschlauch vor. Hier treibt es der Regisseur mit der „Rehabilitierung“ der Katerina freilich etwas weit.

Nach der unterlassenen Hilfeleistung entsorgen die Beiden den Leichnam in der Biotonne. Ausgerechnet dort vermutet dann der Schäbige einen guten Tropfen, um seiner Alkoholsucht zu frönen. In der sehr anspruchsvollen – durchaus auch dankbaren – Passage, in der der „Schäbige“ seine Liebe zum Alkohol und die verkorksten Familienverhältnisse besingt, gelingt es Luis Olivares Sandoval nicht ganz, die Textfülle in der Originalsprache über das Orchester zu bringen.

Wer sich nun auf die köstliche Szene freut, in der die sich langweilenden Polizisten den Dienst und ihre schlechte Bezahlung beklagen sowie darüber nachdenken, welchen Vorwand sie finden könnten, um auch ohne Einladung von der Hochzeitsfeier bei den Ismailows zu profitieren, wird bitter enttäuscht. Ohne Umschweife platzt der Schäbige in die Diskussion mit dem Nihilisten über die Seele der Frösche, die anderenorts gern übersprungen wird. Es ist schwer zu verstehen, dass ausgerechnet die Satire auf den Obrigkeitsstaat und die allgegenwärtige Korruption, die zu den musikalischen und textlichen Highlights der Oper gehört, einfach gestrichen wird. In dem folgenden Zwischenspiel eilen die mit sichtlicher Freude agierenden Polizisten zu der in hektischen Videosequenzen gezeigten Hochzeit. Zu spät! Bei ihrer Ankunft ist die Hochzeitsgesellschaft bereits zum Standbild erstarrt, lediglich das Hochzeitspaar erwacht angesichts der bevorstehenden Verhaftung aus der Starre. Auch die gewaltige Chorszene mit dem besoffenen Popen fiel der unerklärlichen Streichwut zum Opfer. Es fühlt sich an, als hätte man beim „Ring des Nibelungen“ den „Walkürenritt“ gestrichen.

Aksinja, die in der Inszenierung als proletarisches Alter ego von Katerina fungiert und die in dieser Deutung als einzige zu Empathie fähig ist, tritt mit einem Akkordeon vor die Bühne und stimmt ein mir unbekanntes Lied an, das dann durch den Chor aufgenommen wird. Dieser stilistische Bruch bildet die Überleitung zum Vierten Akt. Die vom Chor der Verbannten aufgenommene Klage des alten Zwangsarbeiters über die unmenschlichen Verhältnisse wird ergreifend gestaltet und sorgt für Gänsehaut. Auch szenisch gelingen eindringliche Momente. Der große Ausbruch des Orchesters, der die Verzweiflung Katerinas ausdrückt und ihren Schlussmonolog eröffnet, wird durch eine Banda auf der Bühne in seiner Wirkung gesteigert. Die Handlung endet, bevor Katerina sich gemeinsam mit Sonjetka umbringen kann. Ihr Monolog geht unmittelbar in den das Werk beschließenden Chor der Zwangsarbeiter über.

Erfreulich war, wie das Bremer Publikum im ausverkauften Haus dem Geschehen auf der Bühne – weitestgehend hustenfrei – folgte und auch eine angemessene Pause zu den stehenden Ovationen zuließ. Alle Sänger des Abends, besonders aber der Dirigent Yoel Gamzou und die Bremer Philharmoniker wurden begeistert gefeiert. Beim Publikum lassen die ausgewogene Altersstruktur und das Interesse auf Neues für die Institution Musiktheater hoffen. Wie den Pausengesprächen zu entnehmen war, dürfte es für die meisten Zuschauer die erste Begegnung mit dem Werk gewesen sein. Deshalb empfand ich den sehr eigenwilligen Umgang mit der musikalischen Struktur des Werkes als bedauerlich und irreführend.

Michael Rudloff 30.12.2017

Bilder (c) Theater Bremen