Bremen: „Candide“

Premiere am 14.10.2017

In zwei Stunden um die Welt und darüber hinaus

In seinem satirischen Schelmenroman „Candide“ rechnet der französische Philosoph Voltaire u.a. mit der Gedankenwelt des Optimismus von Gottfried Leibniz und mit der katholischen Kirche ab. Er wendet sich gegen Absolutismus, Dogmatismus und Dummheit. Dabei ist ein Werk entstanden, in dem „jede Seite in einem anderen Land spielt und jeder Absatz ein neues Abenteuer bringt“, wie der Satiriker John Wells es ausdrückte. Gleichwohl sah Leonard Bernstein in dieser Vorlage eine reizvolle Möglichkeit, dem selbstzufriedenen Amerika der Ära Eisenhower mit seinen politischen Verhältnissen (McCarthy) eins auszuwischen. Aber auch sein Musical ist, trotz mehrfacher Überarbeitung, von verwirrender Handlungsfülle, was Loriot zu dem Bonmot veranlasste, es sei das einzige Stück seiner Art, „dessen Inhaltsangabe, rasch vorgetragen, ebenso lange dauert, wie das Musical selbst“. Schon bei der Uraufführung (Boston 1956) merkte die Kritik an, das Musical müsse drastisch gekürzt werden, vor allem im zweiten Akt.

In Bremen wurde eine 1999 entstandene Fassung von John Caird gespielt, die insbesondere den philosophischen Gehalt wieder mehr in den Mittelpunkt rückt. Hier dauert Candides abenteuerliche Reise um die „beste aller möglichen Welten“, bei der er mit Naturkatastrophen, Krieg, Inquisition, Fanatismus und allen denkbaren Schlechtigkeiten der realen Welt konfrontiert wird, noch gut zweieinhalb Stunden. Und Bernsteins feinsinnige, oft zündende Kompositionen mit ihren rhythmischen Finessen, die er für diese Musiksatire in bester Tradition eines Arthur Sullivan ersann, entzückten ohne Einschränkung. Das beginnt bereits mit der hinreißenden Ouvertüre, die im Kern schon fast die gesamte Musik enthält, und setzt sich über die kniffligen Ensembles bis zum anrührenden, hoffnungsvollen Finale fort. Bernstein nannte die Musik zu „Candide“ eine Liebeserklärung an die europäische Musik, was sich in vielen Tanzformen wie Mazurka, Polka, Walzer und Gavotte niederschlägt.

Jeder Regisseur, der „Candide“ inszenieren will, steht vor immensen Schwierigkeiten. Marco Štorman hat einen eigenen, sehr originellen Weg gefunden. Er verzichtet darauf, die im gefühlten Sekundentakt wechselnden Schauplätze auch nur ansatzweise zu bebildern. Das Herzstück der von Jil Bertermann gestalteten Bühne ist eine riesige Spiegelwand im Hintergrund, mit der die Inszenierung geradezu zaubert. Diese Spiegel werden laufend verändert: Sie scheinen zu zerspringen, formen räumliche Gebilde oder setzen sich wieder zusammen.

So entstehen, auch dank perfekter Lichtregie (Christian Kammermüller), immer wieder neue Ansichten und Eindrücke. In dieser Inszenierung macht Candide sogar einen Ausflug ins Weltall. Mit den Spiegeln wird das Schweben der Astronauten perfekt vorgegaukelt. Štorman hat seine Inszenierung (zusammen mit Alexandra Morales) perfekt durchchoreographiert. Der Ritt zu Pferde, die Fahrt über stürmisches Meer, ein Stierkampf in Spanien oder das Erdbeben – alles wird von den Solisten und vom Chor nur durch Bewegungen und Körpersprache verdeutlicht. Die Naturgewalten werden zusätzlich durch akustische Effekte imaginiert. Das verheißungsvolle Lan El Dorado wird durch ein Tor in leuchtenden Regenbogenfarben symbolisiert. Der Garten, in den sich Candide und Cunegonde zurückziehen wollen, ist allerdings ein Stacheldrahtverhau – nicht gerade ein Zeichen von Optimismus.

Besonders beeindruckend sind die mit viel Phantasie und Symbolkraft entworfenen Kostüme von Bettina Werner, ob es nun um die historischen Soldatengewänder, den Prozessionszug eines mexikanischen Totenkults, die Vertreter der Kirche mit ihren überdimensionalen Köpfen, der Goldrausch bei dem wie ein fröhliches Volksfest gestalteten Autodafe, die Astronautenanzüge oder die „Old Woman“ handelt, die hier eher ein heißer Feger in knalligem Rot ist – dem Auge wird viel geboten. Es ist eine Inszenierung, bei der man gut unterhalten wird und der Tiefgang der Gedanken trotzdem zu seinem Recht kommt.

Aber: Die vielen gesprochenen Texte, die man auf der Textanlage gar nicht so schnell verfolgen kann, in englischer Sprache zu bringen, grenzt schon an Arroganz. Die Absicht, den philosophischen Gehalt mehr in den Vordergrund zu rücken, wird dadurch völlig konterkariert. Man musste sich entscheiden: Bühne oder Textanlage – entweder oder. Dies ist ein entscheidendes Manko der Produktion. Dadurch wird einiges an Wirkung verschenkt.

Musikalisch ist alles bestens. Wenn man von der Ouvertüre absieht, die man schon pfiffiger und eleganter gehört hat, können die Bremer Philharmoniker unter Christopher Ward durchgängig überzeugen. Uneingeschränkt vergnüglich gelingt die Quirligkeit bei dem Song „What’s the Use“, den Bernstein erst später in die Partitur einfügte und der eine der besten Nummern ist.

Die Titelpartie, diesen amerikanisch-französischen Simplicissimus, singt Christian-Andreas Engelhardt, dem hier eine seiner besten Leistungen gelingt. Sein Tenor entwickelt Schmelz und Kraft, die Gefühle Candides finden in seinem Gesang und seiner Darstellung oft berührenden Ausdruck. Der bekannteste „Schlager“ der Partitur ist Cunegondes Bravour-Arie „Glitter and Be Gay“, eine Art Parodie auf Gounods „Juwelenarie“, die von Nerita Pokvytyteté mit leichtfüßiger Souveränität und einem Augenzwinkern serviert wird. Aber auch Natalie Mittelbach als „alte Dame“ beeindruckt mit sinnlichen, frivolen Mezzotönen. Die zentrale Rolle des Dr. Pangloss, dem für Leibniz stehen Hauslehrer Candides, wird von dem Schauspieler Holger Bülow gestaltet, der der Rolle Züge eines dämonischen Mephisto verleiht und zudem respektable gesangliche Fähigkeiten entwickelt. Sein Gegenspieler Voltaire, der als Erzähler und Spielmacher wirkt und auch in die Handlung eingreift, findet in Moritz Löwe einen suggestiven Interpreten. Unter den vielen weiteren Partien seien die bestens agierenden Irina Dziashko als Paquette und Birger Radde als Maximilian erwähnt. Der Chor zeigt sich in der Einstudierung von Alice Meregaglia in bester Form und darf gegen Ende auch vom zweiten Rang und in den Gängen im Parkett singen.

Wolfgang Denker, 15.10.2017

Fotos von Jörg Landsberg

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