Bremen: „Rigoletto“

Besuchte Aufführung: 19.3.2016

Premiere: 24.10.2015

Auf dem Jahrmarkt des Grauens

Elf Jahre ist es her, dass Verdis „Rigoletto“ zum letzten Mal am Theater Bremen zu erleben war. Nun hat Regisseur Michael Talke, an dessen vorzügliche Produktion von Donizettis „L’elisir d’amore“ man sich noch gerne erinnert, in Zusammenarbeit mit Barbara Steiner (Bühnenbild) und Regine Standfuss (Kostüme) dem Bremer Publikum eine sehr eigenwillige, spektakuläre und in hohem Maße sehenswerte Neuinszenierung des Werkes beschert.

Marysol Schalit (Gilda), Herrenchor des Theaters Bremen

Insbesondere dem Auge wird recht viel geboten. Der Regisseur siedelt Verdis Oper im 19. Jahrhundert an, wobei ihn Realismus wenig interessiert. Das Seelenleben der Protagonisten spielt bei ihm eine große Rolle, weswegen er das Ganze auch in einem „Psychologischen Raum“ (vgl. Programmheft) spielen lässt. Seine Sichtweise der einzelnen Charaktere ist nicht mehr neu, wird aber stringent vermittelt. Einfühlsam zeichnet er das Bild einer von Männern dominierten Gesellschaft, die Frauen zum bloßen Objekt degradiert und sich darin gefällt, Außenseiter zu quälen. Der fast affenartige Rigoletto wird von ihnen ständig gehänselt und unterdrückt. Den Buckel, den der Hofnarr trägt, deutet Talke als äußeres Erscheinungsbild einer psychischen Deformation. Sparafucile wird als Ebenbild Rigolettos vorgeführt und erscheint als dessen Alter Ego. Der noch tierhafter gezeichnete Mörder ist als abgespaltener Teil der Titelfigur aufzufassen, als Fleisch gewordene Projektion von deren rachedurstigen Gedanken. Dieses Verständnis vorausgesetzt ist es strenggenommen Rigoletto selbst, der am Ende Gilda ermordet – ein sehr interessanter Ansatzpunkt. Im ersten Akt hat das sich gefangen fühlende Mädchen während „Pari siamo“, wo Komponist und Textdichter ihr eigentlich gar keinen Auftritt gönnen – hier wird in trefflicher Art und Weise vom Regisseur ein Tschechow’sches Element ins Spiel gebracht -, mehrmals vergeblich versucht, dem väterlichen Kerker zu entrinnen.

Claudio Otelli (Rigoletto), Marysol Schalit (Gilda), Herrenchor des Theaters Bremen

Mit ihren langen braunen Haaren und dem rosafarbenen Kleid fügt sie sich fest in das Beuteschema des nicht gerade ansehnlichen, glatzköpfigen und einen blauen Rock tragenden Duca ein. Wie Gilda sind alle Opfer des adligen Lebemannes gekleidet. Es ist gleichsam eine Vielzahl von Gildas, die hier auftritt. Wie Rigoletto und Sparafucile hier in Wahrheit nur eine Person darstellen, sind auch die sexuellen Opfer des Duca immer diesselben. Gilda wird praktisch zum Prinzip erhoben und gilt ihm nicht mehr als seine anderen Geliebten. Interessant ist: Die Puppe, mit der sie im ersten Akt spielt, ist dem Duca nachempfunden. Die Doppelung einzelner Figuren resultiert aus einer klar ersichtlichen Art der Zuordnung der Charaktere, die von Talke nachhaltig betont wird. Diese Wesensgleichheit macht einen Großteil der inneren Spannung der Inszenierung aus. Kein Fehler war, dass Talke am Ende auf den herkömmlichen Sack verzichtet und Gilda seitlich auf einem Stuhl sitzend das Schlussduett mit ihrem verzweifelten Vater singen lässt, während Sparafucile im Vordergrund an der Rampe kauert.

Diese Aspekte wurden allesamt von der Regie bestens herausgearbeitet. Dass man diese Aufführung aber nicht so schnell wieder vergisst, verdankt sich in erster Linie dem visuellen Element. Talke verortet die Handlung in einem gruseligen Jahrmarktsmilieu und macht aus dem Ganzen gekonnt ein Kabinett des Grauens. Oft fühlt man sich in einen Horrorfilm versetzt. Darüber hinaus wird der Einfluss des im Jahre 1897 in Paris gegründeten Théatre du Grand Guignol, das Mord und Vergewaltigung sehr realistisch zeigte, offenkundig. Das ist indes nichts Neues mehr. Das hat Lorenzo Fioroni jüngst bei seiner Mainzer Inszenierung des „Rigoletto – wir berichteten – ebenso gemacht. Ein Sonderlob gebührt hier der Sparte Maskenbildnerei und Kostüm für die Art und Weise, wie sie den Hofstaat des Duca in eine Schar regelrechter Zombies verwandelt hat. An der äußeren Aufmachung der Höflinge kann man sich nicht satt sehen, so phantastisch ist sie gelungen. Besondere Aufmerksamkeit beansprucht eine Nosferatu nachempfundene weibliche Gestalt mit langen, spitzen Krallen, der auch die Worte des Gerichtsdieners anvertraut sind. Auch der wie der Leibhaftige inmitten von Rauch aus dem Boden auffahrende Monterone hat etwas nosferatuhaftes an sich. Essentielle Bedeutung kommt in Talkes Interpretation den Bildern des Malers Gabriel von Max zu, die immer wieder zitiert werden. Das Bild der toten Frau nimmt Gildas Tod voraus. Der zähnefletschende Löwe steht für Rigoletto, der eifersüchtig seine Tochter bewacht. Das Bild der Affen macht deutlich, dass der Regisseur das Verhältnis zwischen Rigoletto und Gilda mit einer Affenliebe identifiziert. Diese Eindrücke fügen sich fabelhaft in den aufgezeigten psychologischen Kontext ein. Das war alles sehr überzeugend und wurde mit Hilfe einer stringenten Personenregie auch spannend vermittelt.

Claudio Otelli (Rigoletto)

Auf hohem Niveau bewegten sich auch die gesanglichen Leistungen. An erster Stelle ist hier die wunderbare Marysol Schalit zu nennen, die mit der Gilda einen bedeutenden Schritt in Richtung lyrisches Fach getan hat. Ihre bestens durchgebildete Stimme weist bereits deutlich in diese Richtung. Sie verfügt über einen absolut makellosen, bestens fokussierten, großen Glanz aufweisenden, mit sicherer Höhe und einer glänzenden Pianokultur gesegneten Sopran, mit dem sie alle Facetten ihrer Partie prachtvoll zog. Ihre herrliche E-Dur-Arie „Caro nome“ war der Höhepunkt des Abends. Auch darstellerisch war sie überzeugend. Zu Recht durfte sie sich beim Schlussapplaus über viele Bravo-Rufe des begeisterten Publikums freuen. Dieser außergewöhnlichen Sängerin steht eine große Karriere bevor! Neben ihr ging Claudio Otelli voll und ganz in der Rolle des Rigoletto auf. Schon darstellerisch war er mit seinem imposanten Spiel eine Wucht. Verachtung und Wut auf die Höflinge einerseits, die große Liebe zu Gilda und Verzweiflung andererseits, alles wurde von ihm einfühlsam vermittelt. Auch gesanglich vermochte er mit geradlinigem, robustem und vorbildlich verankertem Bariton für sich einzunehmen. Ebenfalls hervorragend schnitt Hyojong Kim als Duca ab. Er hatte sich die nicht gerade sympathische Anlage der Figur durch die Regie gut zu eigen gemacht und sie schauspielerisch trefflich vermittelt. Gesanglich überzeugte er mit vorbildlich italienisch geschultem, frischem und sonor klingendem Tenor, dem er eine Vielzahl von Farben entlockte. Markant und frisch klang das „La donna è mobile“, sehr gefühlvoll das „Parmi veder le lagrime“. Ein solider Sparafucile war Christoph Heinrich. Loren Lang verfügte in der Partie des Monterone immer noch über ansprechendes Stimmmaterial. Gleich in drei Rollen wurde die einen gut sitzenden, tiefgründig klingenden Mezzosopran aufweisende Nathalie Mittelbach eingesetzt: als Giovanna, Maddalena und Gerichtsdiener. Anständig sang Jörg Sändig den Marullo, vokal wenig auffallend war Wolfgang von Borries’ Borsa. Tadellos gab Daniel Ratchev den Grafen Ceprano. Gerne mehr gehört hätte man von Pauline Jacob, die mit vollem, rundem Sopran die kleinen Rollen der Gräfin Ceprano und des Pagen aufwertete.

Hyojong Kim (Duca), Marysol Schalit (Gilda)

Am Pult stand Daniel Mayr und animierte die konzentriert und klangschön aufspielenden Bremer Philharmoniker zu einem von vielen Zwischentönen geprägten, flüssigen Spiel, das eine gute Italianita aufwies und sich zudem durch viele Zwischentöne auszeichnete.

Fazit: Ein regelrecht preisverdächtiger Opernabend, mit dem das Theater Bremen sein hohes Niveau wieder einmal unter Beweis gestellt hat!

Ludwig Steinbach, 21.3.2016

Die Bilder stammen von Jörg Landsberg