Lange Zeit galt Stephen Sondheim bei vielen Intendanten eher als „Kassengift“, vielleicht auch deshalb, weil in den meisten seiner Werke Wort und Melodie zu einer Einheit verschmelzen und Sondheim hin und wieder bewusst auf eingängige Kompositionen verzichtete, um die Lyrik in den Mittelpunkt zu stellen. Die Harmonie war ihm stets wichtiger als der reine Rhythmus. Seit einiger Zeit erfreuen sich seine Kompositionen jedoch großer Beliebtheit an den verschiedensten Theatern des Landes, allein sein Musical Sweeney Todd ist in der aktuellen Spielzeit in neun großen Inszenierungen von namhaften Regisseuren an deutschsprachigen Theatern zu sehen. So auch am Theater Dortmund, wo die Premiere bereits am 12. Oktober 2024 stattfand und Zuschauer wie Kritiker gleichermaßen überzeugte.
Einem breiteren Publikum ist das Musical vielleicht auch durch die erfolgreiche Verfilmung von Tim Burton mit Johnny Depp in der Hauptrolle aus dem Jahr 2007 bekannt, so dass an dieser Stelle nur wenige Worte zum Inhalt folgen sollen: Nach 15 Jahren kehrt der Barbier Benjamin Barker nach London zurück, in die Stadt, aus der ihn damals der mächtige Richter Turpin vertrieben hat. Hier erfährt er von der Bäckerin Mrs. Lovett, dass Turpin inzwischen Barkers Tochter Johanna in seine Obhut genommen hat und seine Frau nach Übergriffen des Richters Selbstmord begangen hat. Unter dem Namen Sweeney Todd sinnt Barker nun auf Rache, und viele Menschen fallen seinem Rasiermesser zum Opfer. Mrs. Lovett, die sich in den Barbier verliebt hat, hilft ihm nicht ganz uneigennützig, denn die menschlichen Überreste werden zur neuen Zutat ihrer Fleischpasteten, die wegen ihres besonderen Geschmacks bald reißenden Absatz finden. Durch die gelungene deutsche Übersetzung von Wilfried Steiner und Roman Hinze lässt sich die Handlung im Übrigen gut verfolgen.
Sondheim selbst bezeichnete sein Werk seinerzeit als „schwarze Operette“, was die Sache recht gut trifft. So verwendet der Komponist ein Leitmotivsystem, das auf dem gregorianischen Choral Dies Irae basiert. Vielstimmige Ensemble- und Chorstücke, begleitet von einem kraftvollen Orchester, erinnern vielleicht sogar eher an eine Oper als an eine Operette, was Sweeney Todd zu einem echten Musical-Juwel macht. Für die Inszenierung in Dortmund ist Gil Mehmert verantwortlich, dem die filmische Erzählweise des Stückes sehr entgegen kommt, da er in dieser Produktion seine Stärken besonders ausspielen kann. Ohne zu viel verraten zu wollen, diese Inszenierung muss man gesehen haben. Schon vor Beginn der Vorstellung erwartet den Zuschauer statt eines einfachen Vorhangs ein historisches Londoner Stadtbild, das in seiner Detailtreue ein Kunstwerk für sich ist. Bühnenbildner Jens Kilian hat darüber hinaus einen überdimensionalen Backofen geschaffen, dessen Backofentür den Blick in Mrs. Lovetts Laden freigibt. Hinter einer zweiten Tür sind weitere Schauplätze wie das Haus des Richters dargestellt. Außerdem lässt sich der Ofen auf der Bühne absenken, so dass auch Sweeneys Friseursalon über der Bäckerei darauf Platz findet. Leider ist dieses wirklich gelungene Bühnenbild auf den vom Theater zur Verfügung gestellten Fotos nicht richtig zu erkennen. Auch die Kostüme von Falk Bauer wissen zu gefallen und weisen eine gewisse historische Opulenz auf.
Dass man in Dortmund das Genre Musical mittlerweile nahezu perfektioniert hat, zeigt sich bei Sweeney Todd einmal mehr auch in der Besetzung. Kammersänger Morgan Moody, bereits seit der Spielzeit 2011/12 im Ensemble der Oper Dortmund, brilliert als Sweeney Todd mit einem unvergleichlichen Bassbariton. Ihm zur Seite stehen mit Bettina Mönch als Mrs. Lovett, Jonas Hein als Anthony Hope, Harriet Jones als Johanna Barker und Nina Janke als Bettlerin hochkarätige Gäste, allesamt bestens bekannt aus unzähligen großen Musicalproduktionen. Erfreulich ist auch immer wieder, dass Absolventen der nahe gelegenen Folkwang Universität der Künste in Essen in den Dortmunder Musicalproduktionen zu sehen sind. In diesem Fall machen einmal mehr Julius Störmer (Abschluss 2024) als Tobias Ragg und Florian Sigmund (Abschluss 2020) als Büttel Bamford auf sich aufmerksam. Dass zudem die kompletten Abschlussjahrgänge 2025 und 2026 im Ensemble Bühnenerfahrung in einer großen Produktion sammeln können, macht die Sache umso erfreulicher. Abgerundet wird die rundum passende Besetzung durch Andreas Laurenz Maier als Richter Turpin und Fritz Steinbacher in der Doppelrolle des Hochstaplers Adolfo Pirelli und des Irrenhausdirektors Mr. Fogg. Auch der stimmgewaltige Opernchor des Theaters Dortmund unter der Leitung von Fabio Mancini zeigt sich bestens vorbereitet. Die Dortmunder Philharmoniker unter der Leitung von Koji Ishizaka lassen Sondheims abwechslungsreiche Komposition wunderbar differenziert aus dem Orchestergraben erklingen und wechseln passend zwischen den kraftvollen und gefühlvollen Momenten der Partitur.
Die hohe Qualität, die sich hinter den großen Musicalbühnen in Hamburg oder Stuttgart nicht zu verstecken braucht, beweist auch die Tatsache, dass ca. 45 Minuten vor Vorstellungsbeginn noch genau eine Karte an der Theaterkasse erhältlich war. Nach rund drei Stunden Aufführungsdauer hielt es in der besuchten Vorstellung niemanden mehr auf den Sitzen und die knapp 1.200 Zuschauer spendeten euphorisch lang anhaltenden Applaus, der immer wieder von großem Jubel unterbrochen wurde. Sehr schön hier auch der von Rührung gezeichnete Blick von Morgan Moody während des Schlussapplauses, der immer wieder durch den ganzen Saal bis in den zweiten Rang nach oben ging. Mit Sweeney Todd ist dem Theater eine weitere großartige Musicalproduktion gelungen, die auch in den weiteren 15 geplanten Vorstellungen für ein volles Haus sorgen dürfte.
Markus Lamers, 11. November 2024
Sweeney Todd – The Demon Barber of Fleet Street
Musical von Stephen Sondheim
Opernhaus Dortmund
Premiere: 12. Oktober 2024
besuchte Vorstellung: 10. November 2024
Inszenierung: Gil Mehmert
Musikalische Leitung: Koji Ishizaka
Dortmunder Philharmoniker
Weitere Aufführungen bis zum 21. April 2025