Freiburg: „Das Nibelungenlied“

UA am 20.10.2018

Die Nibelungen als Gruppentherapie

Jeder, wirklich jeder meint, das Nibelungenlied zu kennen – insbesondere den Wagnerianern gilt es so viel wie die Bibel – aber nur wenige haben das um 1200 von einem unbekannten Autor verfasste aber auf wesentlich frühere Schriften zurückgehende Werk tatsächlich gelesen. Erschwerend kommt dazu, dass die Geschichte in zahlreichen verschiedenen, zum Teil fragmentarischen Handschriften überliefert ist, von denen v.a. die im 18. Jahrhundert wiederentdeckte St. Galler Handschrift heute als richtungsweisend gilt. Vergessen wird dabei oft, dass die Story paneuropäisch ist – tatsächlich ist Siegfried ein Niederländer – erst seit Wagner gilt der Stoff als deutsches Nationalepos.

Tatsächlich stützte sich Wagner – und auch z.B. Thomas Mann – auch stark auf einen anderen Text, nämlich die isländische Völsunga Saga, welche die Lücken des Nibelungenliedes zu füllen vermag.

Die 39 Aventüren des Nibelungenliedes nachzuspielen, würde natürlich ewig dauern, deshalb konzentriert sich die Truppe auf die Episoden von der Werbung Siegfrieds um Kriemhild über Gunthers Betrug an Brünnhilde und den Streit der Frauen bis zur blutigen Rache der Kriemhild, die zum Tode Siegfrieds und der Vernichtung der Burgunder durch die Hunnen um 436 führt.

Eigentlich ist Jernej Lorenci dabei nicht der alleinige Regisseur, wurde doch der Text von den Schauspielern selbst als Hausaufgaben erarbeitet. Die Proben wurden da zum kollektiven Kreativprozess, während dessen das Endprodukt erst entwickelt wurde. Zurückgreifen konnte Lorenci ausserdem auf sein altbewährtes Team aus slowenischen Landsleuten wie Branko Hojnik (Bühne), Branko Rozman (Musik) und Gregor Lustek (Choreographie), sowie Belinda Radulovic (Kostüme). Die Schauspieler – oder eben Co-Autoren – sind allesamt glänzend, es agieren Tim Al-Windawe, Victor Calero, Martin Hohner, Janna Horstmann, Lukas Hupfeld, Holger Kunkel, Henry Meyer, Laura Angelina Palacios und Michael Witte.

Zwar hat man permanent das Gefühl, eine Gymnasialklasse bei der Semesterlektüre oder eine Therapiesitzung der Anonymen Alkoholiker zu belauschen und das ganze vier Stunden lang. Es ist aber durchaus reizvoll, die Story aus den verschiedensten Perspektiven der Protagonisten nacherzählt zu hören, vor allem da eine durchaus alltagstaugliche Sprache verwendet wird. Dabei agieren die Schauspieler weniger miteinander als mit dem Publikum, erläutern eben ihre Sicht der Dinge in Erzählmanier und bringen dabei so einige Details ans Licht. Das ist so inspirierend, dass gar mancher im Publikum sich den alten Stoff nach diesem Abend noch einmal vornehmen wird, was in unserer lesefaulen Welt durchaus als Erfolg zu verbuchen ist.

© Marc Doradzillo

Alice Matheson 24.10.2018