Freiburg: „Die tote Stadt“

Vordergründig und uninspiriert

Der Tiefsinn und das Rätselhafte bleiben im wahrsten Sinne des Wortes verhüllt

Simultan an den Opernhäusern in Hamburg und Köln wurde 1920 „Die tote Stadt“, die schon dritte Oper des damals 23-jährigen Komponisten Wolfgang Korngold aufgeführt. Librettist war Paul Schrott. Hinter diesem Pseudonym verbarg sich der einflussreiche Musikkritiker Julius Korngold, Vater des Komponisten. Der konnte unter seinem Namen schlecht als Förderer und Antreiber seines wunderkindmäßig begabten Sohns und gleichzeitig als sein Kritiker auftreten. In den zwanziger Jahren gehörte die Oper zu einer Reihe beliebter und viel gespielter Werke, die ehe diese allesamt durch die Nazi-Verfemung des Juden Korngold und seiner „entarteten“ Zeitgenossen in der Versenkung verschwanden. Im Ausland hatten sich die Werke dieser Generation nicht durchgesetzt; im Nachkriegsdeutschland wurden sie von der musikalischen Avantgarde belächelt und ins Abseits verbannt. Erst ab den neunziger Jahren hat man sich dieser Werke, die musikalisch auf der Spätromantik fußen, wieder vermehrt angenommen. Heute ist „Die Tote Stadt“ von den Opern der Generation der „doppelt Verfemten“ wohl die meistgespielte: für die letzte und die laufende beiden Spielzeit listet operabase allein 14 verschiedene Produktionen in mehreren Ländern.

Sigrun Schell (Marietta), Alejandro Lárraga Schleske (Frank/Fritz)

Das Libretto basiert auf dem Roman „Bruges la morte“ (Das tote Brügge) (1892) des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach, nimmt dazu noch die morbide Stimmung auf, welche das Wien der vorletzten Jahrhundertwende bestimmte und geht auf Traumdeutung und Tiefenpsychologie ein, wie sie Freud in dieser Zeit entwickelte. Der Einführungsvortrag des Dramaturgen der Freiburger Produktion Heiko Voss zeichnete die architektonischen Linien des Werks, ihre horizontale und vertikale Mehrschichtigkeit, die Parallelen zwischen Protagonisten und Spielort, die Gegensätze zwischen der Anbetung der Asche und vitaler Existenz und die Übergänge zwischen Traum und Sein in einer Welt auf, die von Bigotterie durchzogen ist und in der die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit laufend verschwimmen.

Der Roman von Rodenbach spielt in Brügge Brügge, einst die reichste Handelsstadt der Hanse, nun in Bedeutungslosigkeit versunken. Diese „tote Stadt“ ist Metapher für den in einen pathologischen Gemütszustand versunkenen Paul, Hauptfigur der Handlung, der seine Tage zeitvergessen vor einem Reliquiar mit „Devotionalien“ seiner verstorbenen Frau Marie verbringt. Marietta, vor Lebenslust sprühende Leitfigur einer Komödiantentruppe mit einer frappanten Ähnlichkeit zur Verstorbenen scheint Paul ins wahre Leben zurückholen zu können. Aber die Beziehung zerbricht, als Marietta Paul endgültig aus seiner Anbetung der Vergangenheit schütteln will. Sie will nicht als wiedererstandene Ikone verehrt werden, sondern als Frau aus Fleisch, Blut und Temperament. Pauls Freundschaft zu Frank zerbricht, weil der auch eine rätselhafte Beziehung zu Marietta hatte/hat; seine Haushälterin Brigitta verlässt ihn, um sich den Beghinen anzuschließen. Als Marietta Paul ein letztes Mal aufreizt, erdrosselt er sie: „Nun gleicht sie ihr (Marie) ganz.“ – Ein (geträumter?) Befreiungsmord? Das Libretto lässt ihn das tatsächlich nur träumen, denn auch für das geschockte Publikum kommt die echte Marietta kommt noch mal herein, um einen vergessenen Regenschirm zu holen. Paul und Frank verlassen die tote Stadt.

Michael Bejai (Paul); Sigrun Schell (Marietta)

Die Regisseurin Florentine Klepper ist ihrem Kritiker durch zwei gelungene Studioproduktionen in Frankfurt im LAB und im Depot bekannt. Aber eine Hauptbühne stellt größere Anforderungen. Denen zeigt sich Frau Klepper in Freiburg nicht gewachsen. Die Inszenierung wirkte improvisiert, teilweise unfertig und blieb oberflächlich. Von dem, was der Vortrag des Dramaturgen versprach, wurde so gut wie nichts eingelöst. Das kann ihm nicht verborgen geblieben sein. Was macht dann eigentlich ein Produktionsdramaturg im Inszenierungsprozess?

Dabei ist der Einstieg in das Werk noch ganz interessant. Von hoher Warte schaut Frank in die abgeschottete Welt des Paul hinunter, der in einem riesigen Raum mit unter weißen Laken verhüllten, hoch aufgetürmten Möbeln sitzt. Er selbst ist auch verhüllt. (Bühne: Martina Segna) Das Portrait von Marie hängt oben im Raum – ebenso verhüllt – schlecht geeignet als Reliquiar und szenisch mit divergierenden Aussehen von Marie und Marietta höchst fragwürdig benutzt. Frank, der Paul besuchen kommt, lässt sich mit Sitzgurt und Seil in dessen Welt hinab. Marietta macht es sich bei ihrem Auftreten viel einfacher: sie zerstört die Tapete und ist einfach da! Damit ist die unterschiedliche Welt der Freunde sowie der Toten und Mariettas schön exponiert. Aber dann kommen schon die handwerklichen Fehler. Die Akteure balancieren ängstlich, unsicher und ungeschickt auf den aufgetürmten Möbeln herum oder hängen halb hilflos im Seil. Warum muss die Regisseurin gestandenen Darstellern so etwas zumuten? Dazu kommen Ungereimtheiten: Paul bestellt bei Brigitta (seiner „alten treuen Magd“) für seine Frau rote Rosen, denn für ihn ist sie noch Teil seines Lebens. Brigitta bringt aber weiße Rosen. Am Text kann man sich ja reiben, aber am Sinn? Dann kommen auch noch Regiemätzchen hinzu („Ferz“ wie man in Rheinhessen sagt). Marietta besorgt es Paul mit einer Fellatio, während der sich religiösem Gesang hingibt: doppelt geschmacklos, aber „Ich bin Regie!“

Sigrun Schell (Marietta)

Das zweite Bild spielt in der Stadt. Hier ist auch alles mit Laken verhüllt. Da aber im Scheinwerferlicht die Strippen silbrig leuchten, weiß man schon, dass die Hüllen hochgezogen werden. Die Szene der Komödianten, in der sie nachts eine Szene aus Robert der Teufel aufführen, ebenfalls eine Szene zwischen Tag und Traum, die die Parallelität der psychologischen Gegenwartssituation mit einer der Schauerromantik zeigt, wird in klamaukiger Surrealität mit z.T. grotesken Kostümen (Adriane Westerbarkey) gezeigt. Das würde eine tiefgründige oder verkopfte Inszenierung in wünschenswerter Weise auflockern, aber in der platten Vordergründigkeit dieser Produktion wirkt das aufgesetzt. Regie Insgesamt: Gewogen (nur Tara) und zu leicht befunden.

Kinder- und Frauenchor (Einstudierung Thomas Schmieger bzw. Bernhard Moncado) werden Libretto-getreu von der verdeckten Hinterbühne zugespielt. Auf den Beghinenzug verzichtet die Regie. Die akustische Qualität der Zuspielungen war aber an diesem Abend eher bescheiden – oder gewollt verdumpft? Zudem hielt man anscheinend die Mikrophone im zweiten Bild dauernd eingeschaltet; denn da erklangen plötzlich die Solisten unnatürlich laut und ebenfalls klangfarblich unangenehm dunkel. Was für die einzuspielende Stimme der (toten) Marie konventionell richtig gedacht und gemacht ist, führt dann auch bei „Mein Sehnen, mein Wähnen“ (Fritz) zu einer vergröbernden Verstärkung, verfälscht die Stimme des Solisten und nimmt den filigranen Charakter bis hinein in den Orchesterklang. Die Schlussszene der Inszenierung mit nur noch zugespieltem Gesang und einer völlig verfälschten szenischen Darstellung („Neudeutung“?) hinterlässt einen schalen Nachgeschmack der Oper – und der letzte Eindruck ist bekanntlich der nachhaltigste.

Michael Bedjai (Paul); Sigrun Schell (Marietta)

Den Klang hatte GMD Fabrice Bollon mit dem Philharmonischen Orchester Freiburg zu gestalten. Er hatte sich wohl Gedanken darüber gemacht, was der junge Komponist im Sinne gehabt haben konnte. Das konnte kaum ein ausgewogenes, abgehobenes Klangbild sein, sondern eher „Sturm und Drang“. Bollon ließ die Partitur zwischen spätromantischer Opulenz, irisierendem Impressionismus und operettig-leichtem Schmelz überwiegend recht ruppig ertönen, auch laut bis zum Lärmigen und scheute sich stellenweise nicht, die Sänger herauszufordern. Dass der Klang teilweise auch über die Hinterbühnenmikrophone zurück kam und nivelliert wurde, trug nicht zu einem wünschenswerteren ausgewogeneren Klangbild und zu Transparenz des Orchesters bei, das als Musikergruppe indes untadelig aufspielte. Bei den operettenhaften Passagen der Oper wurde hingegen ein schmiegsamer Klang erzeugt. Fritzens Sehnen und Wähnen wird mit feinem Pastell der Holzbläser untermalt.

Komödianten; in der Mitte: Sigrun Schell (Marietta)

Sehr ordentlich waren die vier Hauptrollen besetzt. Michael Bedjai als Paul konnte mit seiner kraftvollen und nuanciert färbenden bronzene Mittellage sowie mit strahlenden klaren und festen Höhen überzeugen, hatte aber dazwischen auch mit Schwankungen und Intonationsunsicherheiten zu kämpfen. Alejandro Lárraga Schleske, auf den die Rollen von Frank und Fritz (dieser auch als Pierrot) vereint waren, gefiel mit seinem sehr kultivierten lyrischen Baritonmaterial von guter Textverständlichkeit. Im (unverstärkten) Wechselgesang mit Marietta und Paul hätten sich letztere im Sinne ausgewogener Klangwirkung etwas zurücknehmen können; verstärkt kam Schleskes Stimme dagegenvöllig verändert durch; da klang sein Sehnen und Wähnen undifferenziert. Sigrun Schell, der „Allzweckwaffe im Freiburger Ensemble“, die von Rollenfachkategorisierung nichts hält, lag die Marietta passagenweise zwar etwas hoch, aber die sängerischen Facetten der Rolle von subrettenhaftiger Leichtigkeit, Lyrik und Dramatik gelangen ihr bei sehr engagiertem Spiel gut. Die Mezzosopranistin Bernadett Wiedemann gab eine sängerisch überragende, stimmgewaltige Brigitta mit warmer Grundierung und guter Fokussierung bis in ihre leuchtend klaren hohen Passagen.

Dem Premierenpublikum im vollen Haus hat der Abend gefallen. Mit riesigem Beifall (verhalten nur für die drei Damen des Leitungsteams) bedankten sie sich für den Abend. Man hat es hier zwar nicht in seiner Tiefgründigkeit geboten bekommen, aber dennoch als effektvolles Musiktheater. Weitere Aufführungen: 22., 24., 29. Januar; 1., 4., 8., 13. Februar; 6., 20. März.

Manfred Langer, 19.01.2015

Fotos: Rainer Muranyi