Hildesheim: „Tod in Venedig“

Premiere am 20. April 2019

Eindringlich

Relativ selten findet sich Benjamin Brittens letzte Oper „Death in Venice“ auf den Spielplänen; umso verdienstvoller ist es, dass Hildesheims GMD Florian Ziemen jetzt das vielschichtige, in mehrfacher Hinsicht interessante Werk aufführen ließ. Der alternde, von einer Schaffenskrise heimgesuchte Schriftsteller Gustav von Aschenbach trifft auf einem Münchener Friedhof einen Fremden, der ihm zu einer Reise nach Venedig rät. Dort begegnet ihm immer wieder eine Gegenfigur, als geschminkter alter Geck auf dem nach Venedig übersetzenden Boot (erst jetzt erklingt die Ouvertüre), als alter Gondoliere, der ihn zu seinem Hotel rudert und ihm wie der Unterwelt-Fährmann Charon vorkommt, als schleimiger Hotelmanager, als aufdringlicher Friseur, der ihm vom Gerücht des Ausbruchs der Cholera berichtet, sowie als Straßensänger, in dessen Umfeld das Gerücht bestätigt wird. Entscheidend für Aschenbach ist die Begegnung mit dem schönen polnischen Jüngling Tadzio, den er in seinen Tagträumen am Strand beobachtet. In Tadzios Sieg bei einem spielerischen Fünfkampf bewundert er den verkörperten Triumph apollinischer Schönheit. Alle Warnzeichen der aufkeimenden Cholera ignorierend verfolgt er wie besessen Tadzio und seine Familie durch das Labyrinth der venezianischen Gassen. In einem Reisebüro erfährt Aschenbach vom Ausbruch der Cholera und erhält die dringende Warnung, sofort abzureisen. Er gibt sich Phantasien darüber hin, wie es sei, wenn nur noch er und Tadzio lebend übrigblieben. In einem weiteren Traum wird Aschenbach Zeuge eines Streits zwischen Apollo und Dionysos über die Herrschaft von schöner Ordnung oder Rausch und Chaos, wobei Apollo unterliegt. Am letzten Tag vor der Abreise der polnischen Familie beobachtet Aschenbach von seinem Strandstuhl aus zum letzten Mal das Spiel der Knaben am Strand, das darin endet, dass Tadzio niedergerungen und gedemütigt wird. Aschenbach will ihm zu Hilfe eilen, aber ihm fehlen die Kräfte. Von der Cholera infiziert, sieht er sterbend den Knaben, der wie ein Todesbote ihm zu folgen zuwinkt.

Olv Grolle/Hans-Jürgen Schöpflin

Das Libretto von Myfanwy Piper beruht auf der 1912 veröffentlichten gleichnamigen Novelle von Thomas Mann, in der er tatsächlich Erlebtes von einer Venedigreise, die er mit seiner Frau Katia und seinem Bruder Heinrich 1911 unternommen hatte, verarbeitet hat. Benjamin Britten war schon lange ein glühender Verehrer dieser Novelle, als er 1971 die Arbeit zu seiner wohl persönlichsten Oper begann. Mit ihr hat er eines seiner dichtesten und dramaturgisch innovativsten Werke geschaffen, dessen Klangwelt die Faszination des Todes und der Krankheit sowie Obsession und sogar Ekstase umfasst. Sie hat auch einige lautmalerische und volkstümliche Akzente, wenn das Gedränge in Venedig, die Rufe der Gondolieri oder auch die zunächst unbekümmerte Lebensfreude am Strand zum Ausdruck kommt. Die Uraufführung am 16. Juni 1973 beim Aldeburgh Festival musste ohne den schwerkranken Komponisten stattfinden; die Rolle des Gustav von Aschenbach wurde für seinen Lebenspartner Peter Pears zu einem triumphalen Erfolg.

Hans-Jürgen Schöpflin/Chor

Die in jeder Phase eindringliche Neuinszenierung von Felix Seiler beließ es wohltuend beim in Novelle und Libretto vorgegebenen Zeitrahmen zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Durch immer wieder veränderte, schlichte Holzaufbauten und ganz wenige Requisiten wurde äußerst geschickt ein schneller, reibungsloser Wechsel der zahlreichen Szenen erreicht – meist in sonnendurchfluteter Helligkeit (Ausstattung: Hannes Neumaier). So konzentrierte sich die Inszenierung auf die in der Oper entscheidenden inneren Vorgänge des Venedig-Besuchers. Für die Bewegung im touristisch überlaufenen Venedig, das Gedränge in seinen Straßen und die Lebendigkeit am Strand sorgte vor allem der ungemein lebhaft agierende Opernchor mit einer Fülle von Einzelfiguren (ich habe 18 Chorsolisten im Programmheft gezählt, die mindestens 23 Personen darstellten), insgesamt das Verdienst des noch jungen Regisseurs. Dazu kamen einige Statisten und der nicht weniger lebendig auftretende Jugendchor des Theaters. Dabei hatten die sängerischen Leistungen aller Choristen hohes Niveau, was bei den verlangten Bewegungsabläufen überhaupt nicht selbstverständlich ist (Choreinstudierung: Achim Falkenhausen).

Uwe Tobias Hieronimi/Julian Rohde/Hans-Jürgen Schöpflin

Hans-Jürgen Schöpflin verkörperte Gustav von Aschenbach, inzwischen eine Paraderolle des erfahrenen Sängers. Er musste während der ganzen Oper auf der Bühne präsent sein – und das gelang ihm in imponierender Nachdrücklichkeit. Wie er mit nicht nachlassender Intensität die schwankenden Gefühle des alternden Mannes darzustellen wusste und zugleich seinen flexiblen Tenor stets intonationssicher durch die kräftezehrende Partie führte, das war eine tolle Leistung. Dabei war er in den lyrischen Passagen ebenso überzeugend wie in den dramatischen Ausbrüchen. Seinen geheimnisvollen Gegenspieler, hier teilweise auch schweigendes Alter Ego, gab Uwe Tobias Hieronimi, der durch variantenreiches Spiel überraschte, ob nun als mysteriöser Gondoliere, eitler Hotelmanager, teuflischer Straßensänger oder geschwätziger Friseur. Seinen in allen Lagen ausdrucksstarken Bassbariton setzte er wirkungsvoll ein, auch mit witzigen Falsett-Passagen. Ausgesprochen stimmschön ließ Tobias Hechler als Apollo seinen Counter strömen; mit frischem Tenor gefiel Julian Rohde als Hotelportier, während Jesper Mikkelsen sicher den Clerk im englischen Reisebüro gab; der polnische Jüngling Tadzio war Olv Grolle.

Die musikalische Gesamtleitung hatte Achim Falkenhausen, der den großen Apparat souverän im Griff hatte, wobei besonders positiv auffiel, wie gut alle Gruppen des Orchesters mit den hohen instrumentalen Anforderungen der Partitur zurecht kamen.

Das Premierenpublikum war vollauf begeistert und spendete reichlichen, lang anhaltenden Beifall für alle Mitwirkenden.

Bilder: © Falk von Traubenberg

Gerhard Eckels 22. April 2019

Weitere Vorstellungen: 26.4.+4.,6.,14.,30.5.+3.6.2019(Hildesheim)+30.4.2019 (Gütersloh)