Hagen: „Il barbiere di Siviglia“, Gioachino Rossini

(c) Theater Hagen

Keiner mag heute mehr glauben, dass Rossinis wohl meistgespielte Oper Il barbiere di Siviglia nach Bekunden des Komponisten bei der Uraufführung am 20. Februar 1816 im Teatro Argentino in Rom ein totaler Misserfolg war. Alles soll laut den anekdotischen Berichten bei der Premiere schief gelaufen sein bis zu dem denkwürdigen Höhepunkt, dass zum Finale des zweiten Aktes eine Katze auf die Bühne sprang und das Publikum zu einem Miau-Konzert animierte. Bei der Premiere von Rossinis Opera buffa im Theater Hagen störte keine Katze die Vorstellung, stürzte auch Don Basilio nicht zu Boden und musste seine Verleumdungsarie mit blutiger Nase singen. Das Publikum im leider bei weitem nicht ausverkauften Haus pfiff auch nicht, sondern feierte alle Beteiligten, auch das Regieteam mit lang anhaltenden Beifall.

Dabei hatte Sabine Hartmanshenn in ihrer Inszenierung das jedem Opernliebhaber vertraute Sujet mit seinen unverkennbaren Anleihen an die Commedia dell‘ Arte in so mancher Hinsicht verändert und damit lieb gewonnene Sehgewohnheiten in Frage gestellt. Die eigentliche Handlung, in der es den Liebenden Rosina und Lindoro mit Hilfe des Barbiers Figaro gelingt, den beiden Alten, nämlich Doktor Bartolo und dem Musiklehrer Basilio, ein Schnippchen zu schlagen, erfährt nun eine Rahmenhandlung, die in unserer Zeit spielt.  Rosina ist Mitglied in einer Gruppe Jugendlicher, die durch deren Anführer Lindoro mit Hilfe eines ausgiebigen Trinkgelds dazu gebracht werden, ihn bei einem Ständchen zu unterstützen. Lindoro richtet dieses Ständchen vor einer eher tristen Häuserfassade eines gesichtslosen Wohnblocks nicht mehr an Rosina, sondern an Berta, die Haushälterin Bartolos.

(c) Theater Hagen

Rosina möchte in der Männergruppe nun aber auch nicht nur als Kumpel, sondern als Frau wahrgenommen werden. Mit Hilfe Figaros träumt sie sich in eine andere Welt, eine Märchenwelt, in der schon Prinz Lindoro alias Graf Almaviva auf sie wartet. Sie verwandelt sich während der berühmten Kavatine des Figaro in eine rosarot gekleidete Barbiepuppe (Kostüme: Susana Mendoza) und tritt nun das an, was Sabine Hartmannshenn mit ihrer Inszenierung zeigen möchte, Rosinas Reise zu sich selbst. Für die Regisseurin ist Rosina nicht nur das kratzbürstige, resolute Mündel Bartolos, als das sie sich schon in ihrer Auftrittsarie Una voce poco fa outet, sondern eine selbstbewusste junge Frau, die nicht nur die pekuniären Absichten Bartolos und auch Figaros durchschaut, sondern auch Lindoros Liebeswerben mit zunehmender Skepsis begegnet. Dieser Weg der Selbstfindung ist in eine schrill bunte, bisweilen bewusst kitschige Märchenhandlung eingebettet, bei der man sich immer wieder in einen Disneyfilm versetzt fühlt. Skurrile und völlig überzeichnete Figuren beherrschen die Szene: Doktor Bartolo residiert als König in einem Märchenschloss á la Schloss Neuschwanstein (Bühne und Videprojektionen/Licht: Stefan Heinrichs/Hans-Joachim Köster) mit Krone, aber auch mit Drachenschwanz und Drachenpfoten, Basilio trägt ein Maikäferkostüm und Berta agiert als krakenähnliches Meerestier. Vor ständig wechselndem Hintergrund, indem Videoprojektionen das Märchenschloss in immer neuem Licht und in verschiedenen Landschaften präsentieren und auf diese Weise die Stimmungen der Figuren symbolisieren, spielt sich ein turbulentes Geschehen ab, bei dem allen Beteiligten ein Höchstmaß an Beweglichkeit und Kondition abverlangt wird. Zahllose Gags, zum Teil mehr als banal und z.T. auch eher peinlich – so hat Lindoros Schwert z.B. die Form eines Penis – mögen das Publikum amüsieren, sind aber auf die Dauer eher ermüdend.  Am Schluss wird diesem bunten Treiben ein jähes Ende gesetzt. Rosina  zerreißt den Ehevertrag mit Lindoro/Graf Almaviva, entledigt sich ihrer Perücke und lässt die verdutzten Herren der Schöpfung als Blamierte zurück. Sie hat zu sich selbst gefunden und bedarf der Männerwelt nicht. Fazit: Wer Ruth Berghaus‘ zeitlose Inszenierung des Barbiers von Sevilla und die genial einfachen Bühnenbilder Achim Fryers an der Staatsoper Berlin oder unlängst auch im Kölner Opernhaus erleben durfte, der braucht in Hagen schon ein gerüttelt Maß an Bereitschaft, sich auf neue Sehgewohnheiten einzulassen. Aber wie gesagt, dem Hagener Publikum hat diese schrill-bunte Inszenierung mehr als gefallen.

(c) Theater Hagen

Gesungen und gespielt wird in Hagen von allen Beteiligten mit Verve und nie nachlassender, bewundernswerter Intensität. Anna Doris Capitelli als Rosina ist dabei vielleicht als ideale Rossiniinterpretin besonders hervorzuheben. Sie verfügt nicht nur über eine satte Tiefe und eine fulminante Höhe, sondern  auch über die bewegliche Gurgel, die man für Rossinis halsbrecherische Koloraturen als Sängerin/Sänger besitzen muss. Anton Kuzenok als Graf Almaviva kann nach kleineren Anlaufschwierigkeiten mit einem beweglichen, wunderbar wohlklingenden lyrischen Tenor auftrumpfen und bietet schauspielerisch ein ganz großes Spektakel. Schauspielerisch kann auch Tiziano Bracci als Bartolo voll überzeugen, sängerisch imponieren demgegenüber vor allem Yevheniy Kapitula als umtriebiger, agiler Figaro und ganz besonders Dong-Won Seo als Basilio mit sonorem, gut geführtem Bass. Sophia Leimbach als Haushälterin Berta, Dirk Achille als Fiorello und Sebastian Joest als Offizier komplettieren ein Sängerensemble, das ganz offensichtlich mit ungemeiner Spiel-freude bei der Sache ist. Der Herrenchor des Theaters Hagen (Julian Wolf) und das Philharmonische Orchester Hagen unter Leitung von Rodrigo Tomillo finden im Verlauf der Aufführung immer mehr zu einer luftigen und spritzigen Interpretation der genialen Musik Rossinis. Im übrigen: Rodrigo Tomillo stammt aus Sevilla und war damit ein Garant dafür, dass in Hagen im Gegensatz zu der Uraufführung in Rom nichts schief gehen konnte.

Norbert Pabelick 14. Januar 2024


Il barbiere di Sevilla
Gioachino Rossini

Theater Hagen

13. Januar 2024

Inszenierung: Sabine Hartmannshenn
Musikalische Leitung: Rodrigo Tomillo
Philharmonisches Orchester Hagen


Weitere Vorstellungen: 17. Januar, 1./9. Februar 2024